„Der Fortschritt ist halt wie ein neuentdecktes Land“

Amerika, du hast es besser. In den USA träumt Hillary Clinton von neuen Möglichkeiten: „Progress is possible!“


Was für eine erstaunliche Wiederbegegnung früh am Freitagmorgen. Die Vögel brüllen, die Katze will gefüttert werden, ich möchte noch eine Runde schlafen, weil mir all die Schreckensmeldungen der vergangenen Wochen bewiesen haben, dass es sich nicht auszahlt, mit den Morgennachrichten aufzustehen. Da höre ich im Radio eine Phrase, die aus meinem Wortschatz bereits getilgt zu sein schien, so viele Jahre habe ich sie nicht mehr gehört: „Progress is possible“, sagt mir eine von Euphorie hyperventilierende Stimme.

Sie macht mich hellwach. Weg mit den Nachtgedanken! Hillary Clinton, eben von den Demokraten zur Kandidatin für die US-Präsidentschaft bestellt, mahnt uns mit Recht. Fortschritt, diese liberale Hoffnung, ist ein Wort, das gerade in Krisen verwendet werden muss. Selbst wenn der Dichter Johann Nepomuk Nestroy, der auch recht finstere Zeiten durchlebt hat, in „Der Schützling“ sagen lässt: „Der Fortschritt ist halt wie ein neuentdecktes Land; ein blühendes Kolonialsystem an der Küste, das Innere noch Wildnis, Steppe, Prärie. Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.“

Nestroy hat diese ziemlich ernste Posse, die sich kühn auch mit Not und Spekulation beschäftigt, 1847 uraufgeführt, also ein Jahr vor der Revolution. Aber lassen wir uns nicht voreilig entmutigen – woher stammt dieses Wort der Zuversicht? Aus Frankreich! „Fortschritt“ ist eine relativ junge Lehnübersetzung von „progrès“, der aufgeklärte deutsche Dichter und Prinzenerzieher Christoph Martin Wieland verwendete sie um 1750 als einer der Ersten. Da war Amerika, das sich anfang November zwischen Frau Clinton und dem republikanischen Kandidaten Donald Trump entscheiden muss, an Teilen der Atlantikküste noch ein blühendes britisches Kolonialsystem und im Landesinneren bereits todgeweihte edle Wildnis.

Das sei aber nur am Rande erwähnt, so wie der brutale Wahlkampf, zu dem nur eines gesagt werden soll: Es ist paradox, dass die Demokraten Veränderung wollen, sitzt doch einer von ihnen seit mehr als sieben Jahren im Weißen Haus. Sie müssten eigentlich sagen: „Wir hatten es nie so gut!“, während die Republikaner fordern sollten: „Es ist Zeit für einen Wechsel!“ Aber gerade Trump will das Rad der Zeit offenbar zurückdrehen.

Erst um 1830, weit nach der Aufklärung und wieder vom modischen Paris ausgehend, entwickelte sich der „Fortschritt“ zum politischen Schlagwort. Progressive Parteien reklamierten ihn für sich. Der Dichter Heinrich Heine spottete 1842 über einen ungeduldigen Kollegen: „Nachtwächter mit langen Fortschrittsbeinen, / Du kommst so verstört einhergerannt! / Wie geht es daheim den lieben Meinen, / Ist schon befreit das Vaterland?“

Nicht alle sehen das Progressive so gelassen wie Nestroy oder Heine, vor allem wenn es um die Praxis geht. Martin Heidegger aus dem Schwarzwald etwa ließ sich im philosophischen Furor zu folgendem fortschrittskritischen Orakel hinreißen: „Wie die Technik west, lässt sich nur aus jenem Fortwähren ersehen, worin sich das Ge-stell als ein Geschick des Entbergens ereignet.“ Das relativiert Clintons Optimismus doch ein wenig.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.07.2016)

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