Ohne Siegellack ist eine künftige Briefwahl würdelos

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Klebstoff ist so unsicher wie moderne Wechselwähler, aber selbst alte Methoden, Dokumente zu schützen, können versagen.

Briefwahlkuverts, die sich wie von Zauberhand öffnen, machen derzeit eine Druckerei und deren Auftraggeber zur Lachnummer. Das ist ungerecht, denn jeder Bastler weiß: Klebstoff ist so unsicher wie der launischste Wechselwähler.

Man hätte die Post bei der Wahl der Verpackung zurate ziehen sollen, denn sie garantiert seit Jahrhunderten, dass Postalisches stets unversehrt bei uns Empfängern ankommt. Wir Liebhaber des Klassischen bemängeln an ihr nur, dass selbst dieser einst absolut staatliche Dienstleister längst bewährte Traditionen fahrlässig aufgegeben hat: Den besten Schutz gegen Verletzungen des Briefgeheimnisses bietet noch immer der Siegellack. Wer solche Briefe von der Obrigkeit erhält, ahnt: Jetzt wird es ernst. Ich plädiere also dafür, dass bei künftigen Wahlen von besten Künstlern entworfene Verschlüsse verwendet werden. Es muss doch erhebend sein, solch ein innenministeriell-bundespräsidiales Kunstwerk aus Lack oder Wachs brechen zu dürfen. Ich würde mir für diese Gelegenheit glatt einen Frack anziehen.

Freilich ist selbst derartig Privat-Offizielles nicht vor Missbrauch gefeit. Gerade die räuberischsten Erzschurken schrecken, wie die Literatur zeigt, nicht davor zurück, unbefugt Briefe zu manipulieren. Selbst bei korrekter Verwendung des Siegels kann es zu tödlichen Verwechslungen kommen. Man nehme das Schicksal der holden und ehrbaren Maria von Brabant, die bereits Briefe schrieb, als es das moderne Postwesen noch gar nicht gab. Ihr Gatte, Herzog Ludwig der Strenge von Bayern und Pfalzgraf, zog in den Krieg. Seine besorgte Frau schrieb ins Feld zwei Briefe nach. Im einen bat sie Ludwig um rasche Rückkehr, im anderen den wackeren Raugrafen Heinrich darum, dass er auf den Wittelsbacher Herzog aufpasse. Dafür werde sie ihm eine besondere Gunst gewähren, um die er sie schon lang gebeten habe.

Oho, denken sich die Kenner des Minnesangs, um welche Gunst kann es sich denn handeln? Es war, wie später behauptet wurde, bloß das Du-Wort. Doch erkläre das einer Kampfmaschine wie dem Herzog! Es kam, wie es kommen musste. Obwohl die Briefe Siegel in verschiedenen Farben hatten, wurden sie von einem tumben Boten verwechselt. Ludwig las den falschen Brief und handelte. In Donauwörth ließ er sein Weib enthaupten, kaum dass er vom Pferd gestiegen war. Zwei Hofdamen und ein frecher Burgvogt wurden auch gleich kaltgemacht.

Und der Raugraf? Nichts ist verbrieft, betreffende Kunde blieb verschollen. Später bereute der Herzog ein bisschen die Tat und bat den Papst um Verzeihung. Der verlangte als Sühne einen Kreuzzug oder wahlweise ein neues Kloster. Ludwig stiftete Fürstenfeld. Bayerns Zisterzienser freute das. Merke: Selbst größter Murks im Briefverkehr ergibt bisweilen etwas Gutes.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2016)

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