Europa, diese Mörderin unter den Kontinenten

Der Steirische Herbst denkt in „Theorie zur Praxis“ über das Abendland mit seiner „hässlichen kolonialen Fratze“ nach.

In diesem schwarzen September des Missvergnügens habe ich es leider nicht geschafft, die Eröffnung des Steirischen Herbsts zu besuchen – eine Kollegin im Avantgarde-Thinktank des Gegengifts war schneller. Zurückgeblieben in Wien, kann ich mich nur mit der Lektüre von „Theorie zur Praxis“ trösten, dem programmatischen Überbau des Festivals. Es hat diesmal ein sympathisches Leitmotiv: „Wir schaffen das!“ Ich stimme innerlich freudig zu. „Bob the Builder“, die Zeichentrickserie, die im TV lief, als noch Tony Blair die EU-Großmacht Britannien mit ruhiger Hand führte, zählt bis heute zu den Favoriten in meiner Kleinfamilie. Auf die rhetorische Frage „Can we fix it?“ folgt bei uns verlässlich: „Yes, we can!“ Auch das Cover des „Herbst“-Heftes entzückt: Glückliche Flusspferde in irgendeinem lauwarmen Gewässer des Zukunftskontinents Afrika.

Doch die ferne Idylle täuscht. Das Innere des Hefts ist nicht weltoffen, sondern, im Gegenteil, eine Engführung, die von Außensichten auf den alten Kontinent Europa dominiert wird. Einleitend lehrt uns die Inderin Nikita Dhawan Mores. Sie ist Professorin für Politisches an der Universität Innsbruck, zitiert Denker des Ungefähren wie Husserl, Fanon, Derrida oder Piketty, um sozusagen so postkolonial wie postmodern zu beweisen, was für ein toller, aber auch mörderischer, ausbeuterischer Teilkontinent es ist, auf den derzeit alle Welt flüchten will. Was tun? „Verlangt wird von Europa nichts weniger als gerade die De-Universalisierung europäischer Normen und Werte“, meint Frau Dhawan.

Weit weg vom Telos des Herbstes, frage ich: „Können wir das schaffen?“ Wie de-universalisiert einer, der nicht einmal bis Graz kommt? Ich blättere zur Pop-Feministin Margarita Tsomou und erfahre, dass Europa in der Griechenland-Krise „seine hässliche, koloniale Fratze endlich klar im Spiegel“ erblicke, während es desintegriere. Ihre Zeugen: Joseph Vogl (ein Netz national unabhängiger Akteure aus der Finanzwelt ist schuld) und David Graeber (Schulden waren stets ein Herrschaftsinstrument zwischen Nationen).

Schon beginne ich zu zweifeln, ob die Auswahl der Essays fair ist. Da beruhigt mich ein E-Mail-Talk zwischen Regisseur Milo Rau, dessen „Empire“ ab 14. Oktober beim Herbst aufgeführt wird, und Autor Robert Misik. Sie bilden offenbar den konservativen Rand dieses Hefts. Misik meint: „Die Austeritätspolitik muss ein Ende haben und zwar schnell.“ Das ist heute Common Sense, weit über die Geleise der ÖBB hinaus. Rau raunt: „Europa ist ein ES, fast im Sinn von Lacan.“ Ich meine, da hat er sogar recht: Solch ein Europa gehört auf die Couch, um diese herbstlich gestimmten Utopien zu verarbeiten. Sonst bekommt es noch Neurosen bei all der Weltunordnung, die derzeit in der Steiermark gefeiert wird.

E-Mails an:norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2016)

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