Stilistik aus einer Zeit, in der Unmenschen am Wort waren

Nicht nur Objekte wurden von den Nazis arisiert, sondern auch Gedanken. Das beweist das Schicksal der alten „Stilkunst“ von Eduard Engel.

Die Buchhändlerin meines Vertrauens hat mir unlängst zwei gewichtige Bände in die Hand gedrückt: „Deutsche Stilkunst“ von Eduard Engel. Das müsste ich lesen, forderte sie ultimativ. Was sollte dieser Wink für die Nostalgieabteilung im fortschrittlichen News Room des Gegengifts bedeuten? Mangelnde Form?

Seien wir ehrlich: Ist Deutsch, diese Sprache mit anfänglichen Knacklauten und finalen Auslautverhärtungen, die für romanische Ohren, brutal gesagt, barbarisch klingen, eine Sprache zudem, die sich für Philosophisches und Wissenschaftliches allein deshalb als praktisch erweist, weil man die Frage, die beim ersten Prädikatsteil ihren Ausgang nimmt, längst vergessen hat, ehe sich der Satz mit dem infiniten Teil nach vielen Windungen dem Ende zuneigt, überhaupt für stilistische Brillanz geeignet?

Mit Ciceros rhetorischen Fähigkeiten können wir Spätgeborenen der Schreibkultur uns doch auf keinen Fall vergleichen. Aber da lagen sie nun auf meinem Bürotisch, die zwei dicken Bücher (2016 in der „Anderen Bibliothek“ erschienen, ein Nachdruck der 31. Auflage von 1931, mit einem erhellenden Vorwort von Stefan Stirnemann). Also habe ich damit begonnen, sie zu studieren. Und bin danach erschüttert, aber nicht wegen der souverän-strengen Art, mit der Engel, geboren 1851 in Stolp, gestorben 1938 bei Potsdam, unsere Sprache so fein wie dogmatisch durchleuchtet, sondern wegen seines und seines Buches Schicksal. Dieser Philologe setzte sich als Publizist für europäische Literatur ein, schrieb auch selbst, doch berühmt wurde er 1911 durch seine umfassende Stilistik, einen Bestseller in 31 Auflagen – bisdie Nationalsozialisten an die Macht kamen. Dann wurden die Werke dieses deutschen Patrioten jüdischer Herkunft verboten. Er durfte nicht mehr publizieren. Noch vor Kriegsausbruch war er tot.

Sein Buch wurde ihm gestohlen, und diese Geschichte ist viel zu wenig bekannt. Man kann nicht nur Dinge arisieren, sondern auch Geistiges. Engel wurde von einem gewissen Ludwig Reiners exzessiv plagiiert. Dessen 1944 erschienene „Deutsche Stilkunst“, die er ab 1949, den neuen Zeiten geschickt angepasst, nur noch „Stilkunst“ nannte, wurde ein Standardwerk mit hohen Auflagen. Wesentliches hat er von Engel gestohlen. Hunderte Beispiele.

Besonders entlarvend aber ist eine Variation, die 1944 in das Buch einfloss. Bei Engel hieß es: „Wir dürfen nicht sagen, noch schreiben:

Ich habe gesehen meinen Freund.

Denn dies ist undeutsch.“ Bei Reiners heißt es: „Aber nur in längeren Sätzen können wir das Verb voranziehen. In kürzeren klingt das Voranziehen wie Judendeutsch:

Ich habe gemacht ein feines Geschäft.“

Es ist der Stil eines Unmenschen, mit dem Herr Reiners hier sein Geschäft gemacht hat.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

(Print-Ausgabe, 08.10.2016)

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