Die Rückkehr reiner Poesie über politische Umwege

Ein Plädoyer für Monumente, die dauerhafter sind als Erz. (Und eine kleine Anregung für wirklich fürsorgliche Hotels.)

GegenGift

So viel Lyrik wie in den letzten zwei Wochen hat es in Erdberg in den Stuben des Gegengiftes lange nicht mehr gegeben. Die Rhetorik um den Dichter Günter Grass mit ihren erst-, zweit- und drittklassigen Schlägen war für sanfte Menschen politisch vielleicht unerquicklich, aber das Dichten und sogar seine Analyse nahm einen ungeheuren Aufschwung.

Lies wieder Oden, mein Sohn! Genau! Kollegin B. schritt deklamierend durch den Großraum. Ich fragte sie höflich, ob das, was ich en passant hörte, atheistische Gebete seien, Kinderreime oder Fragmente marxistischer Heimatdichtung. Sie vertröstete mich auf den Sonntag. Da könne ich im Kulturteil der „Presse“ nachlesen, wie Günter Grass und Erich Fried in ihren besten Jahren über den Sinn von Protestliedern stritten. Die Argumentation des prosaischeren der beiden Dichter von damals sei aus heutiger Sicht – überraschend.

Mich aber hat die Suche nach enthüllenden Versen nicht in die Politik gebracht, ich ließ mich gutwillig ablenken, ging zurück zur Natur, zu barockem Zierrat und zu Elegien, die so hermetisch sind, dass man sie immer wieder neu erschließen kann. Was meint zum Beispiel der amerikanische Lyriker Wallace Stevens, der auch schon wieder fast 57 Jahre tot ist, mit seinen „Dreizehn Arten eine Amsel zu betrachten“? Die vierte Strophe ist besonders geheimnisvoll: „Ein Mann und eine Frau/ Sind eins. / Ein Mann und eine Frau und eine Amsel / Sind eins.“ Meint er das rein metaphorisch? Es hängt wohl davon ab, mit wem das lyrische Ich im Gebüsch sitzt. Diese Sätze sind so sinnlich wie die gelben Birnen und wilden Rosen von Hölderlin. Sie nutzen sich nicht ab und haben sogar eine heilsame Wirkung.

Als kleine Anregung: In den Nachtkästchen wirklich fürsorglicher Hotels sollten nicht nur heilige Schriften verschieden strenger Konfessionen bereitliegen, sondern auch Verse, die scheinbar absichtslos sind. Das sorgt beim Leser implizit für Wellness. Wer abends vorm Schlafengehen laut ein Gedicht von Heinrich Heine über die Nordsee, den Frühling oder einen simplen ästhetischen Teetisch vorträgt, vergisst vielleicht kurz die unsinnigen Banalitäten und taktischen Gemeinheiten, mit denen er den ganzen Tag über konfrontiert war, selbst, wenn es ein trauriger Monat November ist: „Ich möcht nicht tot und begraben sein / Als Kaiser zu Aachen im Dome; / Weit lieber lebt' ich als kleinster Poet / Zu Stukkert am Neckarstrome.“

Ein Kaiser mitten im Vers? Ist das etwa doch ein politisches Lied? Ein garstiges Lied? Nein, so wollen wir hier nicht enden. Rasch ins geheimnisvolle Morgenland, zu Meister Du Fu mit seinen strengen chinesischen Zeichen. Zwar war er ein engagierter Dichter, doch selbst nach größten Katastrophen schenkte er Trost durch Dauerhaftes: „Das Reich ist zerstört, aber Berge und Flüsse bestehen weiter.“ Das muss auch einmal gesagt werden.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.04.2012)

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