Wörtern gönnt man ungern neue Frisuren

Der Tod des französischen Zirkumflex ist ein Gerücht. Er wird seltener – wo er sinnlos geworden ist.

Die meisten Menschen, die rechtschreiben können (oder glauben, dass sie es tun), sind orthografisch konservativ. Wörter sollen aussehen, wie man sie gewohnt ist und man sie gelernt hat – war ja mühsam genug. Der Rest der Welt ändert sich eh so rasant.

Wenn dann die Nachricht kommt, dass ein Zeichen, sei's auch noch so klein, aus der eigenen Sprache verschwinden soll, ist die Empörung programmiert. So beklagten in Frankreich letztens viele den „Tod“ des Zirkumflex. Dieses Dacherl, das sich in manchen Wörtern auf Vokalen findet, werde abgeschafft, hieß es. Ab dem nächsten Schuljahr.

Aber gerade weil plötzliche Veränderungen der Sprache so unbeliebt sind, sind es meist gar keine. Richtig radikale Rechtschreibreformen passieren viel seltener als die Gerüchte darüber. Ein solches ist auch der Tod des Zirkumflex. Es wird ihn seltener geben, das ja. Das wusste man freilich seit vielen Jahren.

Schon 1990 hatte die Académie française, die Sprachhüterin der Nation, eine große Rechtschreibreform entworfen, um das Schreibenlernen zu vereinfachen. Diese wurde heftig bekämpft, die neuen Regeln waren aber ohnehin unverbindlich.

2008 rief das Erziehungsministerium dennoch die Schulen auf, sich an die neuen Regeln zu halten. Seitdem ist nichts Neues passiert, außer dass die Schulbuchverlage für das kommende Schuljahr zum ersten Mal nur Bücher nach der neuen Rechtschreibung produzieren. Doch die Erziehungsministerin betont: Die alte bleibt ebenfalls gültig.

Im Vergleich zur deutschen Rechtschreibreform ist die französische also höchst zaghaft. Und der angebliche Tod des Zirkumflex? Auf dem a, e und o bleibt er, auf dem i und dem u braucht man ihn nicht mehr. Im Prinzip. Tatsächlich gibt es jede Menge Ausnahmen – etwa wenn durch den Zirkumflex Wortverwechslungen vermieden werden, zum Beispiel von „mur“, „Mauer“, und „mûr“, „reif“.

Weil er unterscheiden kann, zählt man den Zirkumflex zu den diakritischen Zeichen. Er kann auch die Betonung von a, e oder o bestimmen. Oder verschwundene Laute anzeigen, meist ein „s“; als er im 17. Jahrhundert aufkam, mochte das sinnvoll erscheinen, aber heute? Wollte man alle in den vergangenen Jahrhunderten von der Sprache „verschluckten“ Laute anzeigen, hätte ein großer Teil der Wörter eine Struwwelpeterfrisur aus Zusatzzeichen.

Der Zirkumflex ziert die Vokale wie ein ordentlicher Haarschnitt, zumindest suggeriert die Sprache das, die Franzosen verwenden das Verb „coiffer“ dafür. Menschen lieben neue Frisuren – aber nur bei sich selbst, nicht bei Wörtern.

anne-catherine.simon@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.02.2016)

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