AberGlaube

Rohe Gegenwart? Zumindest wird niemand mehr gerädert

Einer ermordet einen Neunjährigen und erhält vereinzelt Beifall im Internet: Das ist entsetzlich – und dennoch ein Fortschritt zu früher.

Heimlich foltern und morden ist nur das halbe Vergnügen – das wussten schon die Helden des Marquis de Sade. Sie legten Wert auf Zuschauer. So wie der Autor selbst, der sich hinter Gittern isoliert ein Publikum erschrieb, in der Gegenwart und der Zukunft. Und so wie der 19-Jährige in Nordrhein-Westfalen, der am Montagabend statt eines offenbar überlegten Selbstmordes den neunjährigen Nachbarsbuben mit Messerstichen tötete.

Sein mit Worten und Bildern prahlender Chat darüber wurde in der für Perversitäten aller Art bestimmten Rubrik /b/ der Bilder-Website 4chan veröffentlicht und erntete dort auch vereinzelten Beifall. Was schrecklich ist – und zugleich selbstverständlich. De Sades Texte wären nicht bis heute berühmt, würden sie nicht so viel über die menschliche Natur verraten, besonders über die Verbindung von Grausamkeit und Lust darin. Dass der Chat über den ermordeten Buben inmitten pornografischer Postings zu stehen kam, ist kein Zufall.

Aber nicht nur de Sades Werke, auch seine Zeit relativiert Schlussfolgerungen über unsere angeblich so verrohte Gegenwart, wie man sie nach Amokläufen und im Internet inszenierten Grausamkeiten Jugendlicher immer zu hören bekommt. Vielen Europäern des 21. Jahrhunderts erscheint die Guillotine der Französischen Revolution, die de Sade miterlebte, heute als unverständlich, barbarisch, dabei war sie ein Fortschritt an Menschlichkeit. Völlig vergangenheitsvergessen reden wir heute vom „Radebrechen“ oder dass wir uns „wie gerädert fühlen“: Tatsächlich war das Rädern, von dem diese Formeln kommen, bis ins 19. Jahrhundert in Ländern wie Frankreich oder Deutschland (in Österreich noch im 18. Jahrhundert) eine so schreckliche wie gängige Hinrichtungsart. Vor Publikum wurden dem Menschen zuerst mit einer Stange die Gliedmaßen gebrochen, dann wurde er in die Speichen des Wagenrads hineingeflochten und im öffentlichen Raum zu Tode gefoltert: ein mit Flugblättern angekündigtes, massenhaft besuchtes Spektakel für Erwachsene wie für Kinder, in großen Städten wie Paris eine Art Volksfest. Auch das Vierteilen, das Auseinanderreißen der Gliedmaßen, zog die Massen an; noch unter Maria Theresia war es zumindest für Hochverräter vorgesehen.

Ja, jeder kann leicht in die dunkelsten Winkel des Internet gelangen und sich am Monströsen delektieren. Tatsächlich tut es ein verschwindender Bruchteil aller Menschen. Das tröstet nicht im aktuellen Einzelfall, hilft aber, bei der Bewertung die Proportionen zu wahren.

„Allmählich wurde mir offenbar, dass die Linie, die Gut und Böse trennt, quer durch jedes Menschenherz“ verläuft, schrieb der spätere Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn in „Der Archipel Gulag“. „Man kann das Böse nicht gänzlich aus der Welt verbannen, man kann es nur in jedem Menschen zurückdrängen . . .“ Das Bemerkenswerteste an diesen Zeilen ist: Solschenizyn, der den Gulag überlebt hatte, schrieb sie – über sich selbst.

anne-catherine.simon@diepresse.com

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