Muss ich mich wirklich für jeden Regiefehler begeistern?

Immer dann, wenn man relativ ungeschminkt zu beschreiben versucht hat, was auf der Bühne vorgegangen ist, wird nach Objektivität gerufen.

Als Musikkritiker ist man hie und da recht einsam – zumindest bis die ersten Leserzuschriften hereinflattern, die dankbar konstatieren, dass wenigstens einer nicht mit den Wölfen heult, sondern – etwa im Fall von Opernaufführungen Text und Partitur zurate zieht, bevor er zu schreiben beginnt. Jüngst war das im Falle der „Traviata“-Produktion so, die im Theater an der Wien gezeigt wird. Da kam freilich gestern der Brief eines Lesers, der sich über den Dissens wundert zwischen dem lauten Beifall im Haus und den meisten Rezensionen auf der einen – und meiner Rezension auf der anderen Seite.

So weit, so verständlich. Die Auseinandersetzung mit Kunst ist ja eine sehr persönliche Angelegenheit. Zuletzt fordert der Leser dann aber „mehr Objektivität“ ein – und das führt mich zu einem anderen Phänomen, das ich seit Langem beobachte.

Just in dem Moment, in dem man als Kritiker Fakten anführt, die gegen eine Inszenierung – oder eine musikalische Wiedergabe – sprechen, rufen Leser gern nach dieser Objektivität; also just dann, wenn objektiv nachprüfbare Dinge als Argumente gebraucht werden.

Die heftigsten Attacken werden erfahrungsgemäß gegen den geritten, der im Wesentlichen zu beschreiben versucht, was er auf der Bühne gesehen hat. Vielleicht sollte man den Versuch in diesem Fall noch einmal wiederholen: Objektiv betrachtet steht bei Verdi nichts davon, dass während der zentralen Unterredung zwischen Vater Germont und Violetta ein kleines Mädchen auf der Bühne hin und her geschubst und geohrfeigt wird.

Im Theater an der Wien ist, objektiv betrachtet, genau das zu sehen. Objektiv betrachtet steht bei Verdi nichts davon, dass man seine Musik an beliebigen Stellen unterbrechen darf, um irgendwelche Inszenierungs-Gags anzubringen, nach denen das Orchester dann weiterspielt. Genau solche Unterbrechungen aber erlaubt man sich, objektiv betrachtet, in der fraglichen Inszenierung.

Ebenso objektiv betrachtet sollte die Orchesterbegleitung nicht über weite Strecken ein wenig hinter dem hinterherhinken, was die Sänger auf der Bühne von sich geben. Dass das bei der Premiere geschehen ist, ließe sich, auch ziemlich objektiv, anhand eines unretuschierten Mitschnitts derselben nachprüfen.

Ein Teil dieser Fakten war in der Rezension zu lesen – und nun dürfte man mir entgegnen, ein Zuschauer könnte eine Aufführung ja trotz solcher schwer widerlegbarer Einwände für künstlerisch gelungen und stark halten. Das stimmt.

Und damit sind wie in jenen Regionen gelandet, in denen man mit objektiven Kriterien nicht mehr weiterkommt. Das Grazer Gastspiel sei so gut gewesen wie die Salzburger Festspielproduktion mit Anna Netrebko, konstatiert der Leser – man könnte ihm beipflichten: Ja, auch die war rund um eine Primadonna arrangiert – und ziemlich schlecht dirigiert.

Die kritische Auseinandersetzung mit künstlerischen Darbietungen – dazu gehört im weiteren Sinn auch der Applaus des Publikums – ist eine höchst subjektive Angelegenheit. Subjektiv betrachtet – und da darf man mir ruhig widersprechen – bin ich der Meinung, dass ein Wiener Opernhaus eine musikalisch eher mittelmäßige, szenisch auf völlig falschen Voraussetzungen basierende Produktion einer viel gespielten Oper nicht importieren sollte.

Diese Meinung habe ich, wie gesagt, mittels überprüfbarer Tatsachen zu begründen versucht. Viel objektiver geht es kaum – amüsant, dass gerade das dazu führt, dass „mehr Objektivtät“ eingefordert wird.

E-Mails an:wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.07.2014)

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