Wilma Lipp ist 90 - vom Gewicht der Koloratur

Hie und da muss man alte Plattenaufnahmen hervorkramen oder nach ihnen im Internet suchen: Es lohnt sich!

In Zeiten, in denen nur noch in Wien von Segen und Notwendigkeit eines Opernensembles die Rede ist, tut es gut, sich hie und da an vergangene Zeiten zu erinnern, oder besser: hörend zu überprüfen, ob die guten alten Zeiten wirklich so gut waren. Wilma Lipps 90.Geburtstag, der gestern zu feiern war, bietet wieder einmal eine Gelegenheit dazu.

Nicht viele Opernfreunde werden sich an Auftritte der legendären Koloratursopranistin in ihrer Glanzzeit erinnern. Aber alle, die über musikalische Qualität mitreden möchten, können nachhören. Die Lipp stand schon als Teenager – im Kriegsjahr 1943 – erstmals auf der Opernbühne, anlässlich einer Freiluftaufführung von Rossinis „Barbier von Sevilla“. Dass sie über unfehlbare und vor allem bis in höchste Höhen glockenhell und wohlgerundete Koloraturtöne verfügte, sprach sich sofort herum.

Mit 19 war sie Mitglied des Staatsopernensembles, mit 26 jüngste Kammersängerin aller Zeiten. Die älteren Kollegen des heute sagenumwobenen Mozart-Ensembles im Theater an der Wien hatten die Wienerin sofort als Gleichberechtigte in ihre Reihen aufgenommen. Allein die Königin der Nacht in der „Zauberflöte“ hatte sie schon zehn Jahre später, kurz nach der Wiedereröffnung des Hauses am Ring 132 Mal gesungen!

In kleineren Partien – etwa als Leitmetzerin im „Rosenkavalier“ – war die Lipp noch bis Anfang der Achtzigerjahre zu erleben. Über lange Zeit war sie die erste Besetzung für Rollen wie die Olympia in „Hoffmanns Erzählungen“, die Nedda im „Bajazzo“ und die „Rosenkavalier“-Sophie. Die Konstanze in Mozarts „Entführung“ nicht zu vergessen, wo ihr Vermögen, virtuose Tongirlanden mit Herz und sattem Klang zu absolvieren, so ein- wie ausdrucksvolle Wirkung zeitigte.

Und wenn schon vom Nachhören die Rede war: Am kurzweiligsten erleben Nachgeborene Lipps Kunst auf der 1950 entstandenen „Fledermaus“-Aufnahme unter Clemens Krauss, wo sie ihre Leib- und Magen-Rolle, die Adele, bravourös gestaltet.

Wer hören will, wie viele verschiedene Bedeutungen ein und dieselbe, scheinbar immergleiche Koloratur annehmen kann, wenn eine Sängerin in die Musik auch den Text und seinen Sinn zu binden versteht, kommt bei „Spiel' ich die Unschuld vom Lande“ vier Minuten, 20 Sekunden aus dem Staunen nicht heraus. (Und hört dann hoffentlich die ganze Aufnahme von vorn an; eine bessere find't er nicht...)

E-Mails an:wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.04.2015)

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