Vom Wert der Text-Treue und althergebrachter Tradition

Notenlesen und das Gemeinte zwischen den Zeilen zu finden – das hat viel miteinander zu tun. Beispiele aus Dresden und Wien.

Gestern haben einige Musikfreunde in Wien vermutlich gestaunt, falls sie das Programmheft des philharmonischen Konzerts im Musikverein genauer in Augenschein genommen haben. Am 1. Mai haben Musikfreunde in Dresden gestaunt, als sie den „Freischütz“ unter Christian Thielemann hören durften. Die Dinge haben über die Hunderte von Kilometern hin allerhand miteinander zu tun.

Aber erst auf den zweiten Blick. In Dresden dirigierte der allseits bejubelte Wagner- und Richard-Strauss-Interpret Thielemann erstmals Webers Meister-Oper. Und er tat es auf eine Weise, die Kennern schmerzlich bewusst machte, dass die bedeutenden Dirigenten an einer Hand abzuzählen sind, die seit 1945 den „Freischütz“ überhaupt einzustudieren wagten.

Deutsche Romantik scheint mit dem Untergang des Dritten Reichs beinahe unmöglich geworden; wobei da Dichter wie Heine, Jean Paul und Hoffmann, Komponisten wie Weber und Marschner zum Handkuss kommen, die für die Untaten des NS-Regimes wahrlich nichts können.

Wenn nun ein Dirigent vom Format Thielemanns die ganze tönende Wahrheit aus einem doppelbödigen Meisterwerk zutage fördert, dann gelingt ihm das, weil er imstande ist, eine Partitur wirklich zu lesen und umzusetzen, was in ihr steckt. Dazu muss er naturgemäß auch wissen, wie die Spieltradition seit Webers Tagen – sagen wir ruhig: über Wagner und Richard Strauss – gewachsen und geworden ist.

Erst das dieserart entwickelte Gefühl für das, was der Notentext meint – nicht neunmalkluge Kommentare nachgeborener Historikerkommissionsmitglieder –, gibt ihm die nötige Sicherheit. Der „Freischütz“ in Dresden wurde so zur Offenbarung.

In Wien, um auf unseren Eingangssatz zurückzukommen, las man, die Philharmoniker und Simon Rattle würden erstmals aus einer historisch-kritischen Notenausgabe musizieren, die der deutsche Bruckner-Forscher Benjamin-Gunnar Cohrs bei der Wiener Verlagsgruppe Hermann herausgebracht hat.

Was bedeutet das? Alexander Hermann hat im Verein mit Cohrs ein Notations- und Druckverfahren entwickelt, das ohne störende Fußnoten-Agglomeration dank klug eingesetzter Farbenkennung Einblick in die Entwicklung gewährt, die der Notentext unter des Komponisten Aufsicht vom Manuskript über die vom Uraufführungs-Dirigenten eingerichtete Spiel-Partitur bis zur ersten Druckausgabe genommen hat.

Das ist so aufschlussreich wie das Wissen um die Handlung des Stücks und deren Untiefen bei der Interpretation einer Oper: Jede Nuance der Musik „meint“ ja etwas. Jede Nuance des vom Komponisten (und von jenen Interpreten, die unter seiner Aufsicht Aufführungen einstudieren durften) erarbeiteten Notentexts bedeutet etwas für die praktische Realisierung einer Symphonie.

Wer beide Ebenen zusammenzuführen versteht, wird in die Nähe dessen kommen, was der nachschaffende dem schöpferischen Künstler an Hingabe und Demut schuldet. Alles andere ist Halbheit. Wo sie auf's Podest klettert, herrscht die Scharlatanerie.

E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2015)

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