Von der heiligen Schlamperei in der Ordnung

Zum 85. Geburtstag von Lotte Ingrisch, die uns auf unzeitgemäße Weise auf zeitgemäße Themen hinweist.

Zwischentöne – welche Kolumne sonst sollte man Lotte Ingrisch widmen? In einem Zwischenreich ist sie zu Hause, dessen Phänomen beschreibt sie. Zuweilen gehen während des Fernsehens blaue Männer durchs Zimmer. Das sollte angesichts der Qualität des TV-Programms gar nicht überbewertet werden.

Mit Esoterik hat Lotte Ingrisch jedenfalls „nichts am Hut“, wie sie in Interviews bekennt. Was sie über das Leben und sanfte Sterben sagt, und die Tatsache, dass jene im Jenseits mit unsereinem gern kommunizieren möchten, ist für sie ein Faktum – und hat ihr schon Gerichtsprozesse eingetragen.

Solche Widrigkeiten nimmt sie gelassen zur Kenntnis. Nur weil einer nicht die volle Tragweite menschlicher Existenz durchschaut, muss er ja kein schlechter Mensch sein.

Lotte Ingrisch zählt dieserart zu den erfrischendsten Zeitgenossinnen, die wir haben. Die meisten anderen reden ja immer dasselbe, immer von demselben. Bei ihr kommt, wenn sie mitredet, immer noch etwas dazu, woran alle übrigen nie gedacht hätten.

Das war bei ihr immer schon so. Von psychologisierenden Romanen kam sie nach altwienerischem Brauch bald auf die Zauberposse und nahm, apropos Inspiration aus ferneren Regionen, gern Anleihen bei Nestroy oder, nur kalendarisch näherliegend, Herzmanovsky-Orlando.

Die Naivität, derer sie sich hie und da – nicht nur sprachlich – zu bedienen scheint, hat immer doppelten Boden. Religiöse Konnotationen mancher Texte entwickelten sich im Libretto zur letzten großen Oper ihres Mannes, Gottfried von Einem, zur musiktheatralischen Zeitbombe, die losging, als es zur Premiere kam: Die Uraufführung von „Jesu Hochzeit“ geriet zum weltweit beachteten Skandal, inklusive geworfener Stinkbomben im Theater an der Wien und einer Demonstration christlicher Aktivisten vor dem Haus. Das Stück bekam nie eine reelle Chance. Die vermeintliche Blasphemie der geistigen Vereinigung des Gottessohnes mit der „Tödin“ wäre aber vielleicht ein Fall für eine unaufgeregte Lektüre des Textes durch überlegtere Exegeten als die damaligen, die nur die in Magazinen vorab veröffentlichten Zitate kannten.

Das könnte Klärung schaffen. Oder die letztlich ja doch heilsamere, vollständige Verwirrung. Es gab ja Zeiten, in denen man Figuren wie „Die komische Alte aus der Hofburg“, Hauptfigur ihres jüngsten Romans – den sie übrigens in ihrer Wohnung in der Hofburg geschrieben hat –, als Weise bezeichnet hat, während man heutzutage Menschen wie Lotte Ingrisch, die sich dafür engagieren, dass im Schulunterricht endlich auch die künstlerischen Aspekte wieder zu ihrem Recht kommen, gern als Spinner abtut.

Vielleicht tröstet uns ein Vers aus Ingrischs Stück „Kybernetische Hochzeit“ zum Phänomen der Entropie: „Aus jeder Ordnung wird a Schlamperei/Da hilft ka Herrgott und ka Polizei.“ Das dürfte vermutlich nicht nur für den Blick in jedes Kinderzimmer eine tiefe Wahrheit darstellen...

E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2015)

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