Glocken zum Gedenken an einen sinnlosen Tod

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Wer kommende Woche einen bedeutenden Meister der Moderne ehren möchte, sollte einen Download starten.

Am 15. September 1945 tritt Anton von Webern, vor den russischen Besatzern in den Westen geflüchtet, vor sein Quartier in Mittersill, um sich gemütlich eine Zigarette anzuzünden. Ein amerikanischer Soldat, der gerade patrouilliert, ruft ihm zu, er möge stehen bleiben. Doch Webern versteht kein Englisch. Als das Zündholz aufflammt, ertönt ein Schuss: Dem vermeintlichen Notwehrakt fällt einer der friedfertigsten Künstler zum Opfer.

Einer, dessen Werk auf die Musikgeschichte der Jahrzehnte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eminent prägenden Einfluss gewinnen sollte. Die Webern'sche Anverwandlung der Zwölftonmethode seines Lehrers Arnold Schönberg wurde zur Grundlage der musikalischen Avantgarde der Fünfziger- und Sechzigerjahre, die jeden Parameter der Musik einer zahlenmäßig erfassbaren Logik unterwarf – und die Kürze und Prägnanz der Aussage von Weberns Kompositionen zum Menetekel einer neuen musikalischen Ausdrucksform erhob.

Nicht zuletzt diese Beschlagnahme Weberns durch dessen selbst ernannte Erben hat den Blick auf das Wesen von Weberns Kunst getrübt, wo nicht vollkommen verstellt. „Schwelgt in Klängen, dann tut ihr recht, Dirigenten“, verkündete der Meister als Vortragsdogma für seine Musik. Das steht quer zur Doktrin von einer vollkommen mathematisch beherrschten, unsinnlichen Klangwelt.

Webern selbst war das, was man einen Naturburschen nennen darf. Er liebte die Berge und war, was seine Biografen gern ausblenden, glühender Deutschnationaler. Das scheint nicht recht zur Realität zu passen, in der sich Webern nach 1938 vorfand: Seine Musik galt im NS-Staat als „entartet“, durfte nicht gespielt werden.

Dass Webern sich dennoch in seiner politischen Überzeugung nicht irre machen ließ, gehört zu den rätselhaften Fakten und wäre ein Fall für die Psychologie. Ein diesbezügliches Zerwürfnis mit dem längst in die USA emigrierten Arnold Schönberg, der dem Schüler sein Violinkonzert zueignete, ließ sich nur mit Mühe kitten.

An der musikhistorischen Bedeutung von Weberns radikaler Kunst, Musik am Rand des Verstummens zu schreiben, die Sensibilität von Spielern und Hörern aufs Äußerste zu verfeinern, ändert das nichts. Er gehört zu den unverwechselbaren, einzigartigen Typen der europäischen Geistesgeschichte.

Unter dem Motto World-Wide Webern hat der Wiener Komponist Karlheinz Essl eine Aktion ins Leben gerufen, die am 15. September die ganze Welt in ein Webern-Kabinett verwandeln könnte: Alle Viertelstunden ertönt eine Webern'sche Zwölftonreihe als Glockensignal. Je mehr Menschen sie im Internet (www.essl.at) abrufen, umso intensiver wird das Geläute zum Gedenken an den Todestag eines Großmeisters.

E-Mails an:wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2015)

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