Diese Brücke queren wir jedesmal "erstmals".

Auch mehr als 100 Jahre nach der skandalumwitterten Uraufführung pfeift niemand Melodien von Schönberg.

Übermorgen, Mittwoch, ergibt sich – im Musikverein-Abonnementkonzert des philharmonischen Küchl-Quartetts – eine der seltenen Chancen, eines der Schlüsselwerke der immer noch so genannten Neuen Musik live zu hören: das Zweite Streichquartett von Arnold Schönberg. Es ist nicht nur deshalb eine Rarität in den Kammermusikprogrammen, weil (wie in Gustav Mahler'schen Symphonien) in den letzten beiden Sätzen noch eine Gesangssolistin verlangt ist (diesmal Camilla Nylund).

Schönbergs Zweites ist ein heikles Werk des Übergangs und balanciert tatsächlich auf dem Grat zwischen dem auf dem Titelblatt der Partitur noch angegebenen fis-Moll und der völligen Auflösung der Tonalität im Finale. Die Hörer sind also eingeladen, den Weg von der Spätromantik in die Moderne innerhalb einer Komposition mitzugehen.

Ironischerweise betritt man die Brücke nach dem Scherzosatz, in dem Schönberg das wienerische Volkslied „O, du lieber Augustin“ zitiert. Danach war tatsächlich alles hin: die alte Klangkultur und eine Komponistenehe, die angesichts der Beziehung zwischen Mathilde Schönberg und dem Maler Richard Gerstl in die Brüche ging; was des Komponisten treue Schüler Alban Berg und Anton von Webern durch Interventionen zu kitten versuchten – woraufhin Gerstl Selbstmord beging.

Es ist ein böser Treppenwitz der Kulturgeschichte, dass ein ästhetischer Umbruch mit einer menschlichen Katastrophe quasi parallelgeschaltet scheint. Für die Wiener Musikfreunde im Dezember 1908 war nur die akustische Realität der Novität relevant, die das philharmonische Rosé-Quartett mit Staatsopernsängerin Marie Gutheil-Schoder aus der Taufe hob, was zu einem der legendären Wiener Konzertskandale jener Ära führte. Bemerkenswerterweise gab es zwar durchgehende Störaktionen die gesamte Aufführungen über – doch während der langen, träumerischen Coda des letzten Satzes war es plötzlich still im Saal.

Es war der Brahmssaal des Musikvereins, in dem heute auch der „Nachfolger“ Arnold Rosés, Rainer Küchl, mit Philharmoniker-Kollegen musiziert. Er hat keine Pfiffe und Schmähreden mehr zu erwarten, wenn er Schönberg spielt, er wird das Werk aber auch nicht, wie einst Rosé, zwei Wochen später aus Prinzip noch einmal aufs Programm setzen.

Die hoffnungsfrohe Zukunftsvision Arnold Schönbergs, dass man „in 100 Jahren meine Melodien auf der Straße pfeift“, hat sich ja keineswegs erfüllt und eine zweite Schönberg-Aufführung innerhalb kurzer Zeit würde man heute kaum füllen können. Nicht mehr – oder immer noch nicht, je nach Perspektive.

E-Mails an:wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2016)

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