Bayreuth ohne Dirigent? Es geht um viel mehr!

Eine Zeit, in der nichts reifen darf, sollte sich nicht wundern, wenn Souveränität abhanden kommt.

Andris Nelsons hat alles hingeschmissen. Wenige Wochen vor der Premiere einer Neuinszenierung des „Parsifal“ stehen die Bayreuther Festspiele ohne Dirigenten da. Die Klatschspalten wollen wissen, dass Christian Thielemann sein Amt als Musikchef so versteht, dass er den Kollegen gute Ratschläge geben will. Darauf reagieren alte Hasen, indem sie das Telefon auflegen; jüngere Kollegen lassen sich unter Umständen irritieren.

Ob das bei Nelsons so war? Genaueres weiß man nicht. Doch die Kehrseite der Medaille offenbart auch ein Riesenproblem des Musikbusiness: Es kommen uns die Führungspersönlichkeiten abhanden, die auf langer Erfahrung aufbauend die Zügel des heikel zu manövrierenden Zeugels in die Hand zu nehmen imstande wären. Wir werden demnächst mit der Tatsache konfrontiert sein, dass in vier oder fünf der bedeutendsten Opernhäuser der Welt Direktorenposten frei werden – und für keinen einzigen ein tauglicher Kandidat in Sichtweite ist, der heute maximal um die 50 Jahre alt sein dürfte, um eine glaubwürdige Zukunftsperspektive entwerfen zu können.

Was für Manager gilt, gilt noch viel mehr für Sänger und Kapellmeister: Die sogenannte Provinz ist weggebrochen. Starke Talente werden sofort von den großen Häusern ge- und in der Regel frühzeitig verbraucht.

Nelsons, Jahrgang 1978, ist eines der prominentesten Beispiele dafür, wie schwer es ein eminent begabter Musiker hat. Er hatte keine Chance, sich in Ruhe zu entwickeln. Bei viel zu frühen Auftritten mit Spitzenorchestern rettete er sich hinter Selbstläufer wie Strauss-Tondichtungen, Mahler- oder Schostakowitsch-Symphonien – und scheiterte, als er plötzlich vor den Wiener Philharmonikern stand und angesichts eines Ensembles mit einzigartiger Spieltradition mit einer Mozart-Symphonie konfrontiert war; die Musiker hätten dem Maestro wohl allerhand über Stil erklären können.

Aber das dekadente Phänomen der Beweislastumkehr ist auf dem Konzertpodium noch nicht angekommen. Hier gilt noch, was Toscanini einst postuliert hat: in vita democrazia, in arte aristocrazia. Nur dass Toscanini einst als Cellist im Scala-Orchester gesessen ist und unter Verdis Augen und Ohren „Otello“ musiziert hat . . .

Uns kommen diese Aristokraten abhanden, die ihre Führungssouveränität allmählich erworben haben. Ohne gediegenstes Handwerk geht es in der Kunst aber nicht. Selbst ein Talent wie Nelsons muss nervös werden, wenn es plötzlich für Spitzenorchester in Boston und Leipzig Verantwortung übernehmen – und zwischendurch auch noch „Parsifal“ und bald den „Ring“ in Bayreuth dirigieren soll. Ob Kollege Thielemann – der als einer der wenigen noch die sprichwörtliche Ochsentour gemacht hat – Ratschläge erteilt oder nicht.

E-Mails an:wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2016)

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