Wenn die allergrößten Themen uns ganz nahe rücken

Im Mozartsaal singen sie Bachs „Hohe Messe“, im Museumsquartier konfrontierten sie uns mit Hochphilosophischem von Ernst Krenek.

Es sind nicht immer die Projekte der großen Veranstalter, die das Rückgrat des legendär vielschichtigen Wiener Musiklebens stärken. Am Allerheiligentag kann man die Probe aufs Exempel machen und im Mozartsaal (um 17 Uhr) eine Aufführung von Johann Sebastian Bachs „Hoher Messe“ erleben, die von einer Hundertschaft begeisterter Laiensänger unter der Leitung des erfahrenen Dirigenten Ernst Wedam gestaltet wird.

Wedam steht seit geraumer Zeit der 1913 gegründeten Bachgemeinde Wien vor, deren bemerkenswerteste Aktivitäten der Bach-Chor setzt. Begleitet von einem Originalklang-Ensemble werden die engagierten Bachianer dieses Gipfelwerk europäischer Kultur zum Klingen bringen – und nirgends kann der Zuhörer sich von den Klängen so intensiv umfangen lassen wie in dem für Kammermusik so geeigneten Mozartsaal des Konzerthauses; richtig verstanden, ist Bachs grandioses Werk ja Kammermusik: ein intimer Dialog zwischen der Musik und dem Hörer in Sachen grundlegender Glaubensfragen.

Nah dran waren wir – apropos Glaubensfragen – auch an den tief gehenden politischen und ethischen Diskursen, die der Komponist Ernst Krenek als sein eigener Textdichter zum Libretto für seine Oper „Pallas Athene weint“ verdichtet hat. Diese wurde von Walter Kobéras Neuer Oper Wien in der Halle E des Museumsquartiers gezeigt; und das war selbstverständlich eine Großtat, auch wenn man nicht der Ansicht sein muss, dass Kreneks zwölftönige Bearbeitung der Geschichte um den Niedergang Athens die Sehnsucht weckt, sie wiederzuhören.

Die Produktion – von Christoph Zauner dankenswerterweise ganz librettogetreu inszeniert – packte vor allem, weil die junge Sängerriege, von der suggestiven Klangkulisse des Tonkünstlerorchesters animiert, es verstand, die Brisanz der philosophisch-politischen Botschaft des Textes zu transportieren.

Diese ist vieldeutiger, als manche meinen – und jedenfalls höchst aktuell! Krenek hat in der Zeit des US-Inquisitors McCarthy ein durchaus distanziert-skeptisches Bild menschlicher Schwächen und Niederträchtigkeiten in einer Ära des zivilisatorischen Niedergangs gezeichnet. Das Volk leicht verführbar, die Intelligenzija feig oder zynisch oder auf Teufel komm raus verwegen. Ein Sokrates (warm und ausdrucksvoll timbriert: Klemens Sander) inmitten, der seinen Schülern den Weg zur Vernunft nicht zu weisen vermag.

Der schöne Alkibiades (imposant in heldische Regionen sich entwickelnd: Franz Gürtelschmied) verdreht Priesterinnen und Königinnen den Kopf und ist ein Haudegen ohne Skrupel und politisches Gewissen.

Meletos wiederum (Lorin Wey) gibt den altgriechischen Bruder von Wagners Loge, grenzenlos machtbesessen und strategisch zielgerichtet. Zwischen solchen Gestalten zerfällt ein Staatensystem, dessen Grundwerte seine satt und bequem gewordenen, selbstsüchtigen Nutznießer nicht mehr verteidigen wollen. Pallas Athene (Mareike Janowski) weint ausdrucksstark über das Ende ihrer Welt.

Und unsereiner sieht sich dem Spiel der Agitatoren und Verhetzer im kleinen Saal unentrinnbar ausgesetzt, überlegend, welche Parallelen zur dekadenten Gegenwart sich ausfindig machen lassen. Dass sie mittels Repertoire-Durchforstung solche Anregungen gibt, wird man der Neuen Oper weiterhin dankbar anrechnen.

E-Mails an:wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2016)

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