Wer kommt? Boulez? Godot? – Domingo!

Manche Nachrichten klingen plausibel und entpuppen sich dennoch als absurde Behauptungen.

Andere wiederum scheinen abstrus und sind doch wahr. Zum Beispiel die, dass Placido Domingo in China den Rigoletto singen wird. Gelernte Opernfreunde wissen ja, dass der Tenor längst nicht mehr nur Tenor ist, sondern auch Wettbewerbsveranstalter und Operndirektor. Wenn es je eine Reinkarnation von Rossinis Figaro gab, der bekanntlich nicht nur da, sondern auch dort und gleichzeitig noch ganz woanders ist, dann ist das Domingo.

Er dehnt ja mittlerweile seine Universalität auch auf der Tonskala aus. Eben noch in Wien „Parsifal“, wenn auch nur für dreieinhalb Minuten, tags zuvor in London „Simon Boccanegra“ – jetzt also auch der Titelheld in „Rigoletto“.

Und warum in China? Weil Domingo dort Operndirektor ist. Nämlich in einem modernen Business-Center in Peking, das auch ein Opernhaus umfasst. Begleitet von einem chinesischen Orchester, probiert der Sänger dort im kommenden Herbst Verdis traurigen Clown aus – um ihn, auch das gehört bei Domingo dazu, wenig später in Europa auch medial zu verwerten. Er wird hier den Rigoletto zwar nicht auf der Bühne singen, aber in Mantua, wo er als Hofnarr des dortigen Herzogs auch hingehört.

Oper kommt dann wieder einmal „vom Originalschauplatz“ auf unsere TV-Schirme. Zubin Mehta dirigiert. Er hat in solchen Dingen Übung. Seinerzeit betreute er ja auch die fahrplangerechteste aller „Tosca“-Aufführungen, bei der Placido Domingo – wer sonst? – in aller Herrgottsfrüh auf der Plattform der Engelsburg das Leben des Cavardossi aushauchen durfte. Damals spielte man auf dem Original-Schauplatz und sogar „zur Original-Zeit“. Auch „Rigoletto“ wird in zwei Tranchen zu unterschiedlichen Tageszeiten auf Sendung gehen.

So viel zu den glaubwürdigen Unglaubwürdigkeiten des stets extravaganten internationalen Opernbusiness anno 2010.

Anno 2015 soll sich an der Mailänder Scala, so berichtet immerhin ein Weltblatt vom Format der französischen „Le Monde“, eine Uraufführung ereignen. Und zwar einer Oper aus der Feder von Pierre Boulez!

Der französische Meister, der in Sachen Musiktheater bekanntlich vom Saulus zum Paulus geworden ist und der, nachdem er verlangt hatte, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen, bei den Bayreuther Festspielen als Wagner-Dirigent debütierte, wird dann 90 Jahre jung sein. Dass er jetzt eine Oper komponieren soll, ist aber nicht die Pointe.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Pierre Boulez überhaupt noch eine Note komponiert, galt bis zum Erscheinen der Zeitungsmeldung als gleich null. Immerhin wartet die Fachwelt seit Jahrzehnten darauf, dass er zumindest noch das eine oder andere seiner zwei- bis dreiminütigen Klavierstücke namens „Notations“ für großes Orchester setzt. Und nun eine längere, vielleicht gar abendfüllende zusammenhängende Neukomposition? Sollte Boulez wirklich bereit sein, für seinen Freund Stéphane Lissner plötzlich zum Akkord-Akkordschreiber zu werden? Oder macht es Lissner in Mailand wie als Musikchef der Wiener Festwochen: Er ist einfach Chef, kassiert seine Gage, und es passiert (fast) gar nichts? Vielleicht erlaubt sich Pierre Boulez mit uns allen einen kleinen Spaß. Als Text hat er ja angeblich ein Stück von Samuel Beckett gewählt: „Warten auf Godot“.


wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2010)

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