Meine Begegnung mit dem Großen Menschenversteher

Mir ist heute Nacht der Große Menschenversteher erschienen, der mich sofort verstanden hat: Das fürchte ich am meisten!

Morgengrausen? Nein, Menschenverstehergrausen! Obwohl ich mein Dinkelkipferl zart aufgebäht habe – ich stell mir vor, das mag mein Dinkelkipferl, wenig heiße Umluft, keine schonungslosen 220 Grad im Backrohr, nein, milde sechzig tun's auch – bildet es, von meinen es sanft umschließenden Fingern existenzunlustig abbröckelnd, hässlich unförmige Klumpen in meinem Morgenmilchmalzkaffee, der auch irgendwie tot in meinem Frühstückshäferl mit der Aufschrift nichtlustig herumwabert.

Mir ist heute Nacht der Große Menschenversteher erschienen, der mich, von Mensch zu Mensch, sofort verstanden hat. Das fürchte ich am meisten: Dass mich einer, von Mensch zu Mensch, sofort versteht. Ich liege im Traum reglos auf meinem Notbett in meinem begehbaren Medikamentenschrank, praktisch im Wellnesskoma aufgrund der Applikation einer Klinikpackung Prontopax-Forte-Zäpfchen, während ich in der sogenannten Realität (hahaha!) reglos auf meinem Notbett in meinem begehbaren Medikamentenschrank liege, praktisch im Wellnesskoma aufgrund der Applikation einer Klinikpackung Prontopax-Forte-Zäpfchen.

Da tritt mir aus der Helle meines wohlbefindlichen Nichtseins der Große Menschenversteher entgegen, der praktisch zur Gänze aus Spiegelneuronen besteht. Sein spiegelneuronengelenkter Blick dringt in mich ein, total objektiv, eine Psychosonde, die mir, mich sondierend, zuwispert: Gnōthi seautón, „Erkenne dich selbst!“ Und ich, ein bescheiden pragmatisierter Philosophiebeamter, der auf dem Notbett seines begehbaren Medikamentenschranks in seiner bescheidenen Beamtenwohnung dem wohlverdienten Wellneskoma frönt, pralle in meinem Selbsterkennungsalbtraum entsetzt zurück beim Anblick Ulrich Seidl'scher Selbstgeißlerinnen, die, stockkatholisch, zu fettleibigen Sextouristinnen mutieren, welche sich splitterfasernackt von schwarzen Beachboys befingern lassen. Igitt, igitt!

Und nicht nur das, die Psychosonde des Großen Menschenverstehers sondiert meinen Abgrund, der nach dem Abgrund ruft (abyssus abyssum invocat): Habe ich mir eine Klinikpackung Prontopax-Forte-Zäpfchen oralrektal – oder rektaloral – appliziert, weil ich klammheimlich allzu gern eine katholische Selbstgeißlerin wäre, die sich als fettleibige Sextouristin von einem schwarzen Beachboy splitterfasernackt befingern lässt? Der Spiegelneuronenblick des Großen Menschenverstehers ruht auf mir, während seine Psychosonde meinen abgründigen Abgrund sondiert, schonungslos emphatisch, von Mensch zu Mensch: So einer also bin ich, wäääh!

Von plötzlichem Harndrang aus meinem wellnesskomatösen Albtraum gerissen, erwache ich hinein in einen grauen Morgen voller Menschenverstehergrausen. Jetzt, vor den irgendwie toten Klumpen meines Dinkelkipferls sitzend, sehne ich mich nach meinem Freund, dem Trottel, der mich, ganz Menschenfreund, garantiert nicht versteht. Dafür hat er mich aber lieb.

Und siehe, es klingelt. Draußen steht mein Freund, der Trottel, er schreit vor Glück wegen seiner tollen Morgenlaune. Gleich stürzt er herein, hin zu meinem Frühstückstisch. Nach einem Blick in mein Kaffeehäferl mit der Aufschrift nichtlustig umarmt er mich enthusiastisch kopfschüttelnd – „Alles verstehen heißt nichts liebhaben, gell?!“ –, um mir dann, nach dieser kapitalen Sottise, die gar nicht blöd ist, tirilierend die menschenfreundlichste aller Tröstungen zu spenden: „Würd ich dich verstehen, ich hätt dich trotzdem lieb. . .“


E-Mails an: peter.strasser@uni-graz.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2013)

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