Zehn Jahre laut und kein bisschen verständlicher

Ob „Ödipus Rex“ oder „Falstaff“: laut, aber unverständlich ohne die Legobausteine des Harald Schmidt.

In der Oper. Der musikalische Auftakt ist derart laut, dass die, die sich gleich zum Einschlafen in den Sessel hineingedreht haben, wieder hochfahren. Der Orchestergraben ist ein einziges Dröhnen, das Unheil nimmt seinen Lauf. Tschumm, tschumm, tschumm! Und jetzt beginnt der Chor, der sich auf die Bühne ergossen hat, hellauf zu schreien: König Ödipus will Theben retten, retten vor der Pest, aber wer nur, wer, hat den anderen König erschlagen...? Der andere König?? Es gibt also zwei!?! Das muss heraus, sofort, es wird gesungen, was die Stimmbänder halten. Sie halten nicht. Das Orchester verfällt in eine dumpfe Laune.

Zeit, ein Nickerchen zu machen in der Dunkelheit des Zuschauerraumes, wo die Luft vor sich hin brütet. Köpfe kippen vornüber, hintüber. Auch der örtliche Musikkritiker ist eingenickt, indem er kerzengerade, mit aufgerissenen Augen den Hinterkopf seines Vordermannes fixiert. Inzwischen nimmt das Elend seinen Lauf. Ödipus hat seinen Vater erschlagen. Ödipus hatte Sex mit seiner Mutter. Von all dem hat er nichts gewusst. Nichts!

Das Elend hat schier kein Ende und ist doch einem Ende geweiht: So will es das Schicksal. Das Publikum, durch die Laufschrift über der Bühne vom Gang der elenden Dinge halbwegs unterrichtet, fragt sich, warum eigentlich alle immerfort lateinisch singen. War König Ödipus nicht ein alter Grieche, und war sein Dichter, Sophokles, nicht auch einer? Warum singen alte Griechen in altem Latein, das für die, die noch wach sind, ins Deutsche übersetzt werden muss? Egal, die Mutter hängt sich auf, Ödipus sticht sich die Augen aus. Der Chor schreit, die Sänger schreien, auch die toten, man hört sie nicht, denn der Orchestergraben dröhnt: tschumm, tschumm, tschumm!

Dann geht alles, als ob es alle plötzlich eilig hätten: Ende, Applaus, Vorhang. Man reibt sich die Augen, das war das. Ein Kunstgenuss, ein gelungener Opernabend mit ausländischer Starbesetzung. Na ja, ausländisch jedenfalls. Da bockt einer in der Menge der nach draußen Drängenden, die nur eines wollen, nämlich zur Garderobe, und mault lauthals, damit es jeder hören kann, der Ohren hat: „Wo gibt's denn so was? Einer erschlägt seinen Vater und ahnt nichts, hat Sex mit seiner Mutter und ahnt nichts! Und überhaupt: Was geht das mich an?“ Man weiß ja, wie das ist, wenn jemand im vollen Lift zu stinken beginnt. Man versucht, die Nase nicht zu rümpfen, doch die Laune ist perdu. Vielleicht hätte man daheimbleiben und fernsehen sollen? Kriege, Vergewaltigungen, Erdbeben, Entführungen, alles hier und jetzt, und dazwischen die Werbung, kurz: Geborgenheit im Schlechten.

Dann, endlich, zu Hause. Noch ein bisschen fernsehen, die Harald-Schmidt-Show (so ein Zufall, gerade wird, zwischen drei Werbeblöcken, dem Publikum die griechische Tragödie mit Legobausteinen erklärt), und ab ins Bett! Im Ohr noch immer ein Tschumm-tschumm-tschumm, nun aber wie der Regen, der ans Fenster fällt, wenn des Nachbars Hündchen bellt... Gute Nacht, Oedipus Rex.

Postskriptum: Und seither? Seither sind zehn Jahre vergangen. Mein Bericht aus der Grazer Oper erschien am 27. 2. 2003. Es war das erste „Vorletzte Ding“, dem manche prophezeiten, das letzte gewesen zu sein. Und sonst? Erst jüngst schrieb der famose Opernkenner Harald Haslmayr über den Grazer „Falstaff“: „Der Rezensent gesteht, in seinen letzten vierzig Jahren das heimische Orchester noch nie derart brüllend laut gehört zu haben.“ Na also. Nur die Harald-Schmidt-Show ist verschwunden, leider.


E-Mails an: peter.strasser@uni-graz.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2013)

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