Sich wegoperieren lassen: Ein Menschwerdungstraum

Während die Umoperierten perfekte Menschen sein wollen, will Gucciolino, um Mensch zu werden, sich wegoperieren lassen.

Klassisch ist in. Also glaubt er, er sei ein bastardischer Nachfahre des Guccio Gucci, jenes Florentiner Sattlermeisters, der das gleichnamige Mode-Label gründete. Er nennt sich Gucciolino, der „kleine Guccio“. Ihn erinnert das an den „Kleinen Prinzen“ von Antoine de Saint-Exupéry, welch Letzteren er für einen französischen Modeschöpfer hält. Ach, Gucciolino hat sich im Klassischen verirrt. Und das begann nicht erst mit der Pubertät, das hatte eigentlich immer schon begonnen gehabt.

„Das ist wieder einmal klassisch“, pflegte seine Mutter, die Psychodesignerin, zu sagen, wenn er ihr an die Brüste wollte zwischen zwei Terminen, die sie – „Mein armer kleiner Prinz!“ – wahrnehmen musste, um ihre Klienten psychisch neu zu designen. „Das ist wieder einmal der klassische Ödipus“, pflegte seine Mutter zu sagen, während sie, von ihm wegeilend zum nächsten Klienten, ihre Gucci-Brille (sie hatte sechs Dutzend davon, das sind zweiundsiebzig Designerstücke) auf ihrer Nase – an der sich Gucciolino liebend gerne festgesaugt hätte – sexy nach oben schob.

„Werde, der du bist“: Darauf schwört Gucciolino, weil es der Leib- und Leidspruch von Karl („dem Großen“) Lagerfeld ist, seit dessen Hals zu verrunzeln begann, sodass sich der Meister nicht mehr ohne Röhrenkragen im Spiegel betrachten, geschweige Menschen mit Hautgout zeigen konnte, namentlich seiner neuesten Muse, Baptiste Giabiconi. Gucciolino hat keine Ahnung, dass diese Weisheit, „Genoio, hoios essi“, vom alten Verseschmied Pindar stammt. Egal, bloß werde, der du bist.

Denn: Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen. Auch darauf schwört Gucciolino, weil das mit dem Erlöstwerden soll die total krass kreative Vivienne Westwood gesagt haben, die bis in ihre karottenfarbenen Haarwurzeln hinein für die Transgendermodels, welche auf den Catwalks der brasilianischen Fashionweek hin und her stöckelten, entflammt ist – ein Must-have! Sie muss sie, diese todchick Umoperierten, einfach haben für ihre neueste Fashionperformance namens „Westwoodopia“ – ein Titel, den ihr Creative Director designte. Er hat von Mönchengladbachs Petit-Bourgeois-Fadesse über die Karlsruher Kunst-Uni mit ihren tranigen Multikultisauriern zur Wild-Wild-Westwoodianischen Haute Couture gefunden, indem er sich total krass kreativ umoperieren ließ (wo, das verrät er, ganz sissy, nicht einmal seiner Vivienne, soll sie's doch selbst herausfinden, igitt).

Ja, Gucciolino will sich selbst erkennen, weil so, „Erkenne dich selbst!“, hat es gelegentlich eines Umtrunks in der Pariser Bar La Perle der klassisch antisemitische Dior-Wildfang John Galliano – „I love Hitler“ – unter Berufung auf das letzte Radikallifting des apollinischen Beaus Giorgio Armani formuliert (und nein, leider nicht mit Blick auf die Inschrift „Gnōthi seautón“ am delphischen Tempel des strahlend körperlichen Apoll). Ja, man kann bloß werden, der man ist, wenn man sich selbst erkennt, oder? Oder vice versa?

Ach, der arme Gucciolino hat sich, immer nur strebend bemüht, im Klassischen verirrt, seit er, der kleine Prinz Ödipus, seiner Mutter an die Brüste wollte. Keine Brüste, keine Selbsterkenntnis, einzig Zitatenkram und Erlösungssehnsucht. Da hat er eine Idee unter all den Umoperierten, die perfekte Menschen sein wollen: Er will sich wegoperieren lassen. Einfach weg! Er nennt das seinen Traum von der Menschwerdung des Menschen. Irgendwie ist das klassisch, aber so richtig versteht es trotzdem keiner.


E-Mails an: peter.strasser@uni-graz.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2013)

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