Unter dem nuklearen Schutzschirm

Verlierer der strategischen Kalküle der USA und Russlands sind die europäischen Staaten.

Die Drohungen des Generalstabs der russischen Streitkräfte und des Verteidigungsministeriums, den 1987 abgeschlossenen Vertrag über die völlige Vernichtung von Kurz- und Mittelstreckenraketen (IRBMs) – den INF-Vertrag – zu kündigen, hat innerhalb der Nato zu heftigen Vorwürfen an Russland geführt, ein neues Wettrüsten auszulösen. Die Drohungen der russischen militärischen Führungseliten sind eine Reaktion auf die Pläne der Vereinigten Staaten – also nicht der Nato –, in Polen und Tschechien Komponenten der Ballistic Missile Defence (BMD) zu installieren. Die offizielle Begründung der USA für dieses Stationierungsvorhaben – die Bedrohung durch iranische oder nordkoreanische Langstreckenraketen – ist allerdings völlig unglaubwürdig.

Die nordkoreanische Interkontinentalrakete (ICBM) – die Taepodong-2 – ist noch immer nicht einsatzfähig; beim letzten Test im Juli 2006 ist sie nach 32 Sekunden niedergegangen; auch liegt sie mit einem Einsatzradius von maximal 6000 km am äußersten unteren Ende der Reichweite von ICBMs. Die ballistische Flugbahn der nordkoreanischen ICBMs wäre mit dem wahrscheinlichsten Zielgebiet Nordamerika aber ohnehin keine, die über europäisches Territorium führt. Iran verfügt (noch sehr lange) nicht über ICBMs; die Shahab-5, die mit einem projektierten Einsatzradius von 2500 km am unteren Rand der Reichweite von IRBMs liegt, befindet sich erst in einer planerischen Anfangsphase. Diese Raketentypen können daher als Begründung für die Abwehrsysteme in Osteuropa nicht gelten.

Rüstungsdruck auf Russland

Die zu vermutenden wirklichen (militärischen) Absichten der USA sind, das eigene nukleare Arsenal als unverzichtbaren Garanten europäischer Sicherheit zu erhalten und Rüstungsdruck auf die nuklearen Raketenarsenale Russlands auszuüben. Zwar stimmt die Erklärung, eine derart begrenzte Zahl an silogestützten Abfangraketen, wie sie in Polen stationiert werden soll, könne dem derzeitigen ICBM-Potenzial Russlands nicht wesentlich schaden; die unmittelbare militärische Gefährdung Russlands ist daher gering. Die eigentliche Unruhe der russländischen Verteidigungseliten hat zwei gänzlich andere Gründe.

Zum einen kann die Zahl der in Polen – oder in Hinkunft auch in Rumänien und Bulgarien – stationierten Abfangraketen bis 2020, wenn viele der ICBMs Russlands aus Altersgründen verschrottet werden müssen, drastisch ansteigen und damit eine stärkere militärische Gefährdung Russlands darstellen; vor allem in deren mittlerer Flugkurve könnten russische ICBMs durch die silogestützten Abfangraketen in Polen zerstört werden. Angesichts einer stark verringerten Zahl landgestützter russischer ICBMs und eines aus Kostengründen in absehbarer Zeit nur rudimentär ausgebauten Arsenals an U-Boot-gestützten Raketen (SLBMs), könnte bei einer drastisch erhöhten Zahl an BMD-Interzeptoren in Osteuropa die nukleare Zweitschlagsfähigkeit Russlands und damit der Kern der Abschreckungslogik ausgehöhlt werden.

Der zweite, entscheidende Grund aber ist die derzeitige Haltung der USA, den 2009 auslaufenden Start-I-Vertrag, der Anzahl und Sprengkopfbestückung der landgestützten ICBMs begrenzt, nicht durch ein neues vertragliches Rüstungskontrollabkommen zu verlängern. Auch eine Verlängerung des SOR-Vertrages (Strategic Offensive Reduction) aus 2002, der 2012 auslaufen wird und der eine deutliche Verringerung der operativen Sprengköpfe der USA und Russlands vorsieht, ist von den USA nicht zu erwarten.

Russland sieht sich daher mittelfristig einer deutlichen Unterlegenheit im Bereich der ICBMs ausgesetzt, weil Russland auch bei einer weiteren Steigerung der Militärausgaben die strategische Parität mit den USA im Bereich der see- oder landgestützten ICBMs nicht aufrechterhalten kann. Die ICBM-Aufrüstung ist nämlich außerordentlich kostenintensiv.

Die russischen Militärplaner werden auf diese Entwicklung vermutlich assymetrisch reagieren müssen und könnten daher die BMD-Initiative auch als Vorwand für die kostengünstigere Wiederaufrüstung seiner Nuklearkapazitäten durch IRBMs nutzen. Insofern ist für Russland die Kündigung des INF-Vertrages und die neuerliche Entwicklung von IRBMs aus Kostensicht wesentlich günstiger als die durch das Auslaufen des Start- und des SOR-Vertrages notwendig werdende ICBM-Aufrüstung.

Europäischen Staaten als Verlierer

Verlierer dieser strategischen Kalküle der USA und Russlands sind die europäischen Staaten. Diese Staaten gegen die Rüstungspläne der USA zu mobilisieren – und zumindest das deutsche Außenministerium hat damit bereits begonnen – ist auch das kurzfristige Ziel dieser russischen Drohungen. Gelingt diese Strategie nicht, werden wir in einigen Jahren vermutlich eine massive russische Aufrüstung im Bereich der Mittel- und Kurzstreckenraketen und eine neue Bedrohungslage Europas zur Kenntnis nehmen müssen. Das wieder ist den USA nicht unrecht, denn dadurch sind die EU-Staaten wieder auf den nuklearen Schutzschirm der USA angewiesen und die USA für die kommenden Jahrzehnte der militärisch ausschlaggebende Faktor für die Verteidigung Europas. Die Perspektiven einer eigenständigen EU-Verteidigung wären damit für lange Zeit nichtig.

Dr. Gerhard Mangott ist Professor am Institut für Politikwissenschaften der Universität Innsbruck. www.gerhard-mangott.at


meinung@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2007)

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