Viktor Orbáns Halbzeitbilanz: Mutig, innovativ, risikobereit

Replik. Der Wiener Historiker Béla Rásky zeichnete ein desaströses Bild der jetzigen Lage Ungarns. Seine Darstellung bedarf grundlegender Korrekturen.

Dilettantisch, flatterhaft, desaströs“ – das ist laut Béla Rásky („ Die Presse“ vom 19. Juni) die Halbzeitbilanz von Viktor Orbán. Das von ihm vermittelte Bild ist wirklich desaströs: Ungarns Probleme seien seit dem Regierungswechsel von 2010 noch gravierender geworden, die sozialen Spannungen gewachsen, und es herrsche überall Frustration. Ohne alles verteidigen zu wollen, was die Regierung von Fidesz und Christdemokraten seit Sommer 2010 gemacht hat, bin ich sicher, dass das von Rásky entworfene Bild grundlegender Korrektur bedarf.

Ich sehe die Schritte der Regierung Orbán als den ersten seriösen Versuch, die Disfunktionen des 1990 entstandenen politischen, staatlichen und wirtschaftlichen Systems – in vielen Fällen sogar die Überreste des überlebten Kádár'schen Sozialismus – mit einer nachholenden Generalsanierung zu korrigieren. Mutig, innovativ und risikobereit musste die Mitte-rechts-Regierung beim Umbau agieren. Über Erfolge und Misserfolge kann man erst am Ende des Prozesses reden – aber es ist bereits klar, dass es keineswegs in die hoffnungslose Richtung geht, die von Rásky prophezeit wird. Um meine Meinung zu unterstützen, möchte ich hier einige Thesen seines Kommentars analysieren.

64 von 92 Versprechen erfüllt

Orbán wird vorgeworfen, vor seinem Wahlsieg 2010 kein konkretes Programm vorgelegt zu haben. Aber es gab ein Wahl- und Regierungsprogramm, das natürlich nicht alle Schritte der vier Jahre detailliert anführte, aber ziemlich viel Konkretes enthielt.

Unsere Analyse hat 92 Versprechen identifiziert, von der Einführung flexibler Arbeitsformen bis zur Bewahrung der Kaufkraft der (staatlichen) Renten, von der Erweiterung der Stärke der Polizei um 3500 Personen bis zur Wiederherstellung der Steuerfreiheit gemeinnütziger Spenden. Das Programm ist in den ersten zwei Jahren zu 64 Prozent umgesetzt worden. Natürlich, wenn man die Bilanz der Regierungsarbeit zieht, kann das Programm nur einer von vielen Gesichtspunkten sein. Wichtiger sind die etwa 360 neuen Gesetze und Gesetzesänderungen.

In der Gesetzgebung haben wir tatsächlich ein enorm hohes Tempo gesehen, was auch Fehler mit sich gebracht hat. Es ist jedoch klar, dass die grundlegenden Reformen einer großen Anzahl neuer Gesetze bedurften – und das während kürzester Zeit, weil es sonst keine Zeit für den Aufbau neuer Strukturen gegeben hätte.

Die Fehler können währenddessen korrigiert werden, um die Funktionsfähigkeit zu verbessern. Die Regierung war kompromissbereit, wirkte internationaler Kritik oder verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen, wie etwa beim Mediengesetz oder beim Notenbankgesetz geschehen. Der neue Staatspräsident, der Diplomjurist János Áder, trägt mit dem Zurücksenden einiger Gesetze viel zum besseren Gesetzgebungsprozess bei. Das alles verspricht eine Konsolidierungsperiode für den zweiten Teil der Amtszeit. Eine solche braucht Ungarn auch, da es sehr viel Arbeit ist, die auf Basis neuer rechtlicher Strukturen erfolgen kann.

Die Aufgaben von Staat und Gemeinden werden effektiver und transparenter verteilt; die Betreibung von Schulen und Krankenhäusern von hoch verschuldeten Gemeinden wird dem Staat übertragen und diese dadurch – hoffentlich – besser organisiert; das Rentensystem wird von großzügigen Früh- und Invalidenrenten befreit; ein möglichst großer Anteil passiver Sozialbeihilfen wird durch Lohn für gemeinnützige Arbeit ersetzt und vieles mehr.

Völlig selbstständige „Vasallen“

Orbán wird auch regelmäßig vorgeworfen, dass es ihm bei den neuen Gesetzen und der Ernennung neuer Amtsträger „nur um die langfristige Sicherung seiner Macht“ gehe. Wenn wir aber die Erfahrungen von 2010 bis 2012 genauer anschauen, finden wir, dass die angeblichen „Vasallen“ der Fidesz-Regierung völlig selbstständig in ihren Ämtern vorgehen, und damit eine Machtkonzentration verhindern.

So haben die von Fidesz ernannten neuen Verfassungsrichter die regierungskritischen Entscheidungen des Gerichtshofes mitgetragen und manchmal sehr kritische Meinungen artikuliert. Oder: Der neue Präsident der Kuria (Oberster Gerichtshof) hat es abgelehnt, nach einem kontroversen Urteil die Praxis der Gerichte auf Anfrage des Justizministers untersuchen zu lassen.

Vielleicht am wichtigsten aus Sicht der Demokratie ist das neue Wahlgesetz: Laut der Venediger Kommission, der Expertengruppe des Europarates, ist das neue Gesetz eine geeignete Grundlage für tatsächlich demokratische Wahlen.

Dass die Vergangenheit nicht so einfach überwunden werden kann, kennen wir vom Beispiel anderer Länder. Dieses Schicksal bleibt auch Ungarn nicht erspart. Ein Historikerstreit über die Zwischenkriegszeit dient der Aufarbeitung der Geschichte und der Aussöhnung.

Kein offizieller Horthy-Kult

In Ungarn gibt es 3200 Gemeinden; in drei errichteten die lokalen Volksvertreter ein Horthy-Denkmal. Die Entscheidungen dieser selbst verwaltenden Gemeinden als offiziellen Horthy-Kult darzustellen, ist mehr als ungerecht. Zudem wäre eine wirkliche, aber – teilweise von Betroffenen – stets verhinderte Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur ebenfalls wünschenswert.

Eine andere häufige Kritik an Orbán und seiner Regierung betrifft die „konzeptlose“ Wirtschaftspolitik, die „Ungarns Position bei allen entscheidenden Kennzahlen unter den EU-Schlusslichtern fixiert“. Die wichtigsten wirtschaftlichen Probleme des Landes – wie etwa das schwache Wirtschaftswachstum oder die hohe Staatsverschuldung – sind aber stark mit der europäischen Wirtschaftskrise und der Misswirtschaft linker Regierungen zwischen 2002 und 2010 verbunden.

Die „konzeptlose“ Wirtschaftspolitik Orbáns zielt eigentlich darauf ab, in dieser Situation einige Grundsätze (Senkung der Staatsverschuldung, Besteuerung lukrativer nicht-verarbeitender Industriezweige und des Konsums statt der Arbeit) konsequent zu vertreten.

Falsche Richtung – tatsächlich?

Wenn das alles purer Dilettantismus wäre, wie ist zu erklären, dass von der Europäischen Kommission für Ungarn 2012 ein Haushaltsdefizit von 2,5 Prozent und für 2013 von 2,9 Prozent erwartet wird – beide Werte deutlich unter dem EU-Durchschnitt? Zwischen 2002 und 2009, also unter den linken Regierungen, betrug das Defizit durchschnittlich 6,7 Prozent pro Jahr – mehr als das Zweifache des EU-Durchschnitts.

Auch findet die Richtung des Konsolidierungsprogramms der Regierung Orbán sowohl bei den internationalen Organisationen als auch auf den Märkten zunehmend Anerkennung. Die EU-Finanzminister haben vor Kurzem die Sanktionen gegenüber Ungarn aufgehoben, und laut der neuesten Analyse des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts ist in Ungarn bis 2020 ein Wirtschaftswachstum zwischen 25 und 30 Prozent und ein Exportwachstum von 67 Prozent zu erwarten. Sind das Indizien für das Einschlagen einer falschen Richtung?

Zum Autor


E-Mails an: debatte@diepresse.comGábor Takács ist politischer Analyst bei dem konservativ-liberalen Budapester Thinktank „Nézöpont Intézet“. Er studierte Volkswirtschaftslehre und internationale Beziehungen in Budapest und Bristol, Großbritannien. Zwischen 2000 und 2010 war er als Journalist bei der Budapester Wirtschaftstageszeitung „Világgazdaság“ tätig. [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2012)

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