Es geht uns besser denn je, doch das Haus braucht Renovierungen

Österreich und Europa stehen vor schweren Herausforderungen. Aber der Optimist kann überall auch große Chancen erkennen.

Es ist heutzutage nicht leicht, ein Optimist zu sein. Schulden ohne Ende – von Griechenland bis Fohnsdorf, Jugendarbeitslosigkeit, Milliardenspritzen für Hypo Alpe Adria und Geldknappheit bei Kindergärten und Universitäten. Diktatur in Syrien, Korruption bei öffentlichen Aufträgen, steigende Armut. Gestern Portugal in Finanznöten, heute Spanien und morgen irgendwer.

Dennoch: In Österreich geht es uns heute besser als der vorhergehenden Generation. Und Europa ist und bleibt ein Erfolgsmodell.

Österreichs Wirtschaft entwickelt sich seit über zehn Jahren jedes Jahr besser als der Euroraum. Die Differenz von 1,6 Prozent Wachstum pro Jahr in Österreich gegenüber 1,1 Prozent in den anderen Euroländern klingt nicht atemberaubend. Aber über zehn Jahre gerechnet ergibt das auch 15 Prozent gegenüber zehn Prozent bei den anderen. Der „Österreich-Bonus“ ist für ein relativ reiches Land außergewöhnlich, weil Wachstumsraten mit höherem Einkommen verflachen. Aber wir sind heute unter den Top fünf Europas beim Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt (BIP), vor uns liegen nur Luxemburg und die Niederlande, außerhalb der EU sind die Schweizer (Finanzzentrum) und die Norweger (Öl) „reicher“.

„Reicher“ als unsere Eltern

Nun wissen wir um die Grenzen des BIPs als Wohlstandsmaß (die Beseitigung von Umweltschäden ist dabei, private Altenbetreuung nicht). Aber auch bei alternativen Wohlstandsmaßen liegen wir im Spitzenfeld; bei „konsumnäheren“ Indikatoren liegen wir vielleicht ein paar Plätze schlechter, aber deutlich überdurchschnittlich. Bei Umweltqualität und Energieeffizienz verteidigt Österreich seine Spitzenposition jedoch zu wenig.

Aber die Jugend habe es doch immer schwerer, die Studenten müssten gleichzeitig arbeiten, heißt es. Das mag stimmen, wenn man die finanziellen Möglichkeiten mit den Verlockungen vergleicht, die uns Technik und Globalisierung bieten.

Die Wirtschaftsleistung beträgt heute 30.000 € pro Kopf, 1970 waren es 12.000 €. Das heißt, wir sind nach Berücksichtigung der Inflation um 134 Prozent „reicher“ als unsere Eltern. Wieder: BIP ist nicht Einkommen, aber was immer wir einwenden – im Schnitt ist jeder mehr als doppelt so reich wie seine Eltern im gleichen Alter.

Das sehen wir auch, wenn wir Zahl und Entfernung der Reisen messen, Qualität der Güter, Größe der Wohnungen, Besuche in Fitnessstudios und von Festivals. Und da ist noch gar nicht eingerechnet, dass es bei jedem Gut viele Varianten gibt: Vor 40 Jahren gab es eine Einheitssemmel, ein „unintelligentes“ Telefon, bestenfalls einen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher.

Erwähnt werden muss auch, dass die Arbeitslosigkeit in Österreich niedriger ist als in den meisten anderen Ländern, die Erwerbsquote höher, die Verteilung gleichmäßiger und dass unsere Leistungsbilanz hochaktiv ist. Natürlich gibt es auch Schattenseiten. Die Gender-Ungleichheit ist in Österreich hoch, ebenso die Bildungsvererbung. Sogar die Lebenserwartung und die Lebensjahre, in denen wir uns gesund fühlen, sind von Herkunft und Bildung abhängig.

Das Bildungssystem ist bei Weitem nicht optimal, Kinderbetreuung quantitativ knapp, qualitativ unbefriedigend und nicht annähernd kostenlos.

Eine Million Österreicher sind „armutsgefährdet“ (nach einer Definition, deren Schwellenwerte mit wachsenden Einkommen steigen). Armut ist häufiger in Wien, in kinderreichen Familien, bei Alleinerziehern, Menschen ohne Ausbildung oder mit Migrationshintergrund.

Vieles muss sich ändern, damit Österreich die gute Position auch noch 2030 besitzt. Die Luft an der Spitze ist dünn, und andere Länder wollen unsere heutige Position in der globalisierten Wirtschaft einnehmen. Das ist kein Schicksal, hier hat Selbstzufriedenheit keinen Platz. Aber es ist eine Herausforderung, noch besser zu werden.

Ein großes Problem besteht darin, dass unser Gesellschaftssystem von den Jugendlichen als nicht gerecht empfunden wird. Es gebe zu viel Privilegien, Ungleichheit, Spekulationen, zu wenig Zeit für wichtige und schöne Dinge des Lebens. Zusammenhalt, Gemeinschaftssinn, Unterhaltung spielten eine zu geringe Rolle. Keine schlechte Agenda also, wir haben genug zu tun.

Erfolgsmodell Europa

Die USA fordern Europa auf, die Krise zu überwinden. Amerikaner und Briten freuen sich klammheimlich über jede Schwäche des Euro. Nord- und Mitteleuropäer beklagen den Finanzbedarf der Südeuropäer. Die Chinesen überlegen, in Europa zu investieren, wenn doch „Euroland“ in zehn Jahren weniger Mitglieder haben könnte als heute. Dennoch ist Europa eine Erfolgsgeschichte. Die EU begann in den 1960er-Jahren mit sechs Mitgliedern; heute hat sie 27 Mitglieder, weitere zehn Länder bewerben sich mit unterschiedlicher Chance. Europa war historisch immer zerstritten, viele Kriege sind hier entstanden, darunter zwei Weltkriege. Heute haben Länder das Kriegsbeil begraben, werden Kriegsverbrecher ausgeliefert, um Mitglied der EU zu werden.

Eine „Integrationsmaschine“

Europa erlebte die schnellste Integration getrennter Wirtschaftssysteme, die es je gab. Die Weltbank mit ihrem Adlerblick bezeichnet Europa als „Integrationsmaschine“, weil es gelungen ist, unterschiedliche Wirtschaften innerhalb von 20 Jahren zusammenzuführen. Die EU hat eine ausgeglichene Leistungsbilanz, kann den Anteil an den Weltexporten im Gegensatz zu den USA konstant halten.

Natürlich gibt es Probleme. Europa muss für niedrigere Schulden höhere Zinsen zahlen, weil es nicht als Einheit gesehen wird. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Die Konvergenz des Südens ist zum Stillstand gekommen, Forschungs- und Bildungsziele wurden nicht eingehalten und Europa altert.

Wenn man aber davon ausgeht, dass eine Region mit hohen Einkommen verstärkt soziale Ziele verfolgt, der Ressourcenschonung einen höheren Stellenwert geben soll, dann ist das europäische Modell wesentlich „fortschrittlicher“ als das amerikanische, auch die Lebenserwartung ist höher.

Das soll nicht heißen, dass wir nicht an einem neuen Weg arbeiten sollen, durch den Europa an der Dynamik der Weltwirtschaft teilhaben kann, gleichzeitig sozial inkludierender sein müssen und mit weniger Ressourcen und Energie auskommen sollten (vgl. das Projekt: „Ein neuer Wachstumspfad für Europa“, den das Wifo mit 32 europäischen Partnern gerade ausarbeitet, www.foreurope.eu).

Es bleiben große Herausforderungen. Österreich braucht Reformen, damit wir die gute Position ausbauen und das Modell an die Bedürfnisse der Jugend anpassen können. In Europa ist das Haus zu verbessern und auszubauen – mit mehr Dynamik, Solidarität und Regeln, die auch befolgt werden. Und weltweit ist wichtig, das Wachstum mit den Ressourcen und den Bedürfnissen der ärmeren Teile der Bevölkerung in Einklang zu bringen. Als Optimist sehe ich überall Chancen und Anfangserfolge, an denen wir weiterbauen können.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor

Karl Aiginger (*23. 10. 1948 in Wien) ist seit 2005 der Leiter des Österreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung (Wifo). Er studierte Volkswirtschaftslehre an der Uni Wien. Der Industrieexperte übernahm Lehraufträge an der Uni Wien und wurde als Gastprofessor an mehrere renommierte Universitäten berufen. [Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2012)

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