Freiheit für die Religionen oder Freiheit von Religion?

Gastkommentar. Das Menschenrecht der Religionsfreiheit ist zunehmend gefährdet. Durch die Religionen selbst, mehr noch aber durch ihre Feinde.

Selten waren sich die deutschen Kommentatoren, ob links oder rechts, konservativ oder liberal, so einig wie bei der begeisterten Zustimmung zum Urteil des Landgerichts Köln über die Beschneidung. Bekanntlich hat das Gericht die Beschneidung eines muslimischen Buben als strafbare Körperverletzung qualifiziert, den Arzt, der sie durchaus fachgerecht vorgenommen hat, aber freigesprochen, weil er sich der Strafbarkeit seiner Tat nicht bewusst gewesen sei.

Von nun an sollen aber alle wissen, was es geschlagen hat:

Endlich, so der Tenor der Kommentare, werden Pflicht und Anspruch des Staates, die körperliche Integrität seiner Bürger zu schützen, gegen die „Werteentscheidungen von Glaubensgemeinschaften“ durchgesetzt. Endlich so der Unterton, werden die Religionen in ihre Schranken gewiesen. Der Staat dürfe keine Praxis zulassen, die den „Verlust eines angeborenen Körperteils“ bedeute, den der Bub, einmal herangewachsen, bedauern könnte, weil er von den religiösen Bekenntnissen seiner Eltern nichts mehr wissen will.

Weltfremde Spitzfindigkeit

Das ist spitzfindig bis zur Lächerlichkeit, und es legt den Eltern eine Art Neutralitätsverpflichtung gegenüber ihren Kindern auf, die weltfremd und letztlich verantwortungslos ist. Es negiert eine Grundtatsache der Conditio humana: Der Mensch lebt nicht von der Gnade des Staates, sondern davon, dass Eltern für ihn Verantwortung übernommen haben.

Schon damit, ein Kind in die Welt zu setzen, haben sie eine irreversible Entscheidung getroffen, überhaupt die Entscheidung schlechthin: Ob ein Mensch sei oder nicht. Das Kind konnte nicht gefragt werden, ob es leben will. Vom ersten Tag an bestimmen die Eltern das Leben ihres Kindes auf eine prägende und definitive Weise: Bei Alltäglichkeiten der Erziehung wie bei schweren Entscheidungen etwa über Operationen auf Leben und Tod.

Im Vergleich dazu ist die Beschneidung als körperlicher Eingriff unbedeutend. In den USA, in Kanada und Australien ist sie eine verbreitete Praxis weit über religiöse Minderheiten hinaus. Das Gericht in Köln hat sie aber als Körperverletzung qualifiziert.

Manche stellen sie unsinnigerweise in die Nähe der barbarischen Sitte der weiblichen Genitalverstümmelung, die darauf abzielt, der Frau die Freude an der Sexualität zu nehmen. Das ist nicht der Ausfluss von Religion, sondern im Gegenteil Symptom tiefster heidnischer Unerlöstheit. Tatsächlich eine Konkurrenz zwischen Religionsfreiheit und Menschenrecht gibt es bei der Verweigerung einer möglicherweise lebensrettenden Bluttransfusion, die von manchen Religionsgemeinschaften abgelehnt wird. Hier muss man wohl den Vorrang des Rechts auf Leben vor einer religiösen Vorschrift konstatieren.

Geradezu absurd mutet die Begründung des Gerichts an, durch die Beschneidung werde die Religionsfreiheit des Kindes beeinträchtigt, weil es sich dadurch später nicht mehr selbst entscheiden könne, welcher Religion es angehören wolle. Damit geben die Richter einem Ritus eine Bedeutung, die sich nur religiösem Denken erschließt, für die aber ein weltliches Gericht keine Zuständigkeit beanspruchen kann. Ähnlich wäre es, wenn sie das für Christen unauslöschliche Siegel der Taufe als Hindernis für einen späteren Religionswechsel qualifizieren würden. Ganz abgesehen davon, dass es nach dieser Denkart das Christentum nicht geben dürfte, denn die ersten Christen waren alle beschnitten.

Die Religionsgemeinschaften sind verständlicherweise alarmiert. Die jüdische Gemeinde, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland wieder etablieren konnte und zu beträchtlicher Stärke herangewachsen ist, sieht das Urteil als einen Angriff auf ihre Existenz. Zumal der Ton, in dem die Auseinandersetzung geführt wird, für religiöse Minderheiten bedrohlich klingt. Der Vorschlag, die Beschneidung analog zur Regelung bei der Abtreibung als „rechtswidrig, aber straffrei“ zu behandeln, muss ihr wie ein Hohn vorkommen. Sie will nicht die Tötung eines Kindes im Mutterleib mit einem harmlosen Eingriff gleichgestellt sehen.

Zentraler Bestandteil der Religion

Ohne Erlaubnis zur männlichen Beschneidung wäre traditionelles jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich. Beschneidung ist sowohl für orthodoxe wie auch für liberale Juden ein unverzichtbarer Bestandteil ihres religiös-kulturellen Lebens. Sie infrage zu stellen sei in Deutschland immer mit antijüdischer Verfolgung einhergegangen, argumentiert der jüdische Historiker Michael Brenner aus München. Im Übrigen sei die Beschneidung von Säuglingen nach acht Tagen nicht zu vergleichen mit der möglicherweise traumatischen Wirkung bei Halbwüchsigen. Protestiert gegen das Urteil hat auch der Erzbischof von Köln, Joachim Meisner: „Das Urteil konstruiert eine Schutzpflicht des Staates gegenüber einer Elternentscheidung, die für jüdische Eltern eine biblisch begründete Pflicht ist und für muslimische Eltern in einer verpflichtenden religiösen Tradition gründet“, sagte er.

Dem Kardinal schwant vermutlich auch etwas anderes: Eines Tages könnte ein Richter auf die Idee kommen, um die „seelische Integrität“ eines Kindes vor den religiösen Ambitionen seiner Eltern zu schützen, christlichen Eltern die Kindertaufe zu verbieten, oder allen Gläubigen, ihre Kinder überhaupt in einem Glauben aufzuziehen. Der Vorschlag, zum „Schutz“ der Kinder die Beichte vor der Erreichung der Religionsmündigkeit zu verbieten, ist tatsächlich schon gemacht worden. Elternrecht ist ein Kern der Religionsfreiheit.

Das Menschenrecht der Religionsfreiheit ist auf doppelte Weise in Gefahr. Es wird in Misskredit gebracht, wenn Religionsgemeinschaften jede Kritik und jeden Diskurs über sie als gegen die Religionsfreiheit gerichtet erklären und abwehren. Das trifft etwa zu, wenn jede kritische Anfrage an den Islam zur Islamophobie erklärt wird.

Bedrohlicher ist freilich eine andere Tendenz: Die Religionsfreiheit wird zur Gefahr für andere, vermeintlich gewichtigere Menschenrechte und damit als zweitrangig erklärt. Es ist aber nicht weniger wichtig als Frauen- oder Kinderrechte.

Es gibt nicht zweierlei Menschenrecht und keinen Gegensatz zwischen Menschenrechten und Religionsfreiheit. Selbstverständlich kann es auch keinen Zwang zur Religion geben, man muss auch keiner Glaubensgemeinschaft angehören dürfen.

Das Beschneidungsurteil und die verständlicherweise empfindliche Reaktion der Juden darauf könnten den Eindruck entstehen lassen, es handle sich bei der Religionsfreiheit nur um Minderheitenschutz. Der geradezu zelotische Eifer der Religionsgegner zielt aber darauf ab, Religion überhaupt aus der Öffentlichkeit zu verdrängen und den Staat dazu zu verpflichten, das durchzusetzen. Religionsfreiheit bedeutet Freiheit zur Religion und nicht repressiv durchgesetzte Freiheit von Religion.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2012)

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