Warum Österreich endlich ein Archiv der Migration braucht

Die Spuren der Einwanderung drohen – vielleicht für immer – verloren zu gehen.

Seit über vierzig Jahren leben Migranten aus Südosteuropa in Österreich. Ebenso lange produzieren sie Erinnerungen, Geschichten, verfassen Dokumente, und Dokumente werden über sie verfasst. Sie hinterlassen Spuren in der Administration, sie gründen Vereine, nehmen am Leben der Vereine, Verbände und Innungen Teil. All das wäre Material für Archive.

Doch dieses Material droht verloren zu gehen oder auf lange Zeit unauffindbar zu bleiben. Denn es gibt in Österreich kein Archiv der Migration. Deshalb fordern Forscher, die sich mit Migration nach, von und in Österreich befassen, ein Archiv der Migration hier und jetzt.

Die Vereine der Migranten in Österreich haben zwar teilweise eigene Archive. Doch allzu oft werden diese entsorgt, wenn der Obmann oder die Obfrau wechselt – und an welche Stelle könnten sie sich auch wenden, wenn sie ihr Archiv abgeben wollten? Es gibt ja kein Archiv der Migration und keines der bestehenden Archive der Republik oder der Länder hat sich bisher die Dokumentation der Geschichte der Migration zur Aufgabe gemacht.

Lange Tradition der Migration

Dies ist umso erstaunlicher, als gerade Österreich eine lange Tradition der Regionen überschreitenden Migration und des Nebeneinanders verschiedenster kultureller Formationen, Sprachen und Religionen hat. Vor hundert Jahren war das ein Österreich, in dem es schon ein Islam-Gesetz gab, eine Hauptstadt mit vielen Synagogen, orthodoxen und anderen nicht katholischen Kirchen.

Auch aus dieser Tradition gäbe es reichhaltige Materialien für die Geschichtsschreibung, doch sie sind nur sehr schwer auffindbar. Denn es gibt kein Archiv, das sich ihre Sammlung zur Aufgabe gemacht hätte. Und diejenigen Bestände, die in Archiven vorhanden sind, und die aus dieser Tradition hervorgegangen sind, sind weit verstreut, kaum gesichtet, nicht systematisch ausgewiesen, wenn sie nicht schon längst dem Reißwolf zum Opfer gefallen sind.

Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, bedarf es einer gezielten konservatorischen Anstrengung, um die Archivalien der Migration zu erhalten, zu bündeln, zugänglich zu machen, oder dort, wo es darum geht, Zeitzeugen zu befragen, auch zu produzieren.

Was dokumentiert werden sollte

Wie könnte ein Migrationsarchiv in Österreich aussehen? Wünschenswert wäre es aufgrund der Vorgeschichte Österreichs, dass ein Archiv der Migration sowohl die Wanderungen des 19.Jahrhunderts dokumentiert als auch die neue Arbeitsmigration ab den 1960er-Jahren. Erzwungene Migration im 20.Jahrhundert und die Erste Republik sollten eigentlich auch nicht fehlen.

Entscheidende Voraussetzung für ein gelungenes Archiv wäre es, die verschiedenen migrantischen Organisationen mit an Bord zu haben, aus den Erfahrungen der Migranten selbst konservatorische Strategien abzuleiten.

Besonders dringlich erscheint es, die Erinnerungen, die jetzt noch von der ersten Generation der Arbeitsmigranten der 1960er- und 1970er-Jahren aufgezeichnet werden können, professionell in Oral-History-Interviews aufzunehmen und fachgerecht zu konservieren.

Im kommenden Jahrzehnt werden verstärkt Studierende aus Familien mit den verschiedensten Migrationsgeschichten an den historischen Universitätsinstituten nach Möglichkeiten suchen, „ihre“ Geschichte zu erforschen und zu schreiben. Sorgen wir dafür, dass sie nicht mit leeren Händen dastehen werden.

Dr. Wladimir Fischer forscht und lehrt an der Universität Wien über Südosteuropäische Geschichte, Kultur und Migration.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2012)

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