Es riecht nach digitaler Bücherverbrennung

Heute Abend öffnet die Frankfurter Buchmesse wieder ihre Pforten. Das ist Anlass, daran zu erinnern, dass der Bildschirm definitiv nicht unser Freund ist: Ein Plädoyer für das Papierbuch und gegen das E-Book.

Unser noch junges Jahrhundert wird immer reicher an pikanten Krankheiten. Da gab es „SARS“, die „Vogelgrippe“ und neulich die „digitale Demenz“. Letztere befällt in der Regel Büroarbeiter, die zur regelmäßigen Bildschirmarbeit verdonnert werden, und Teenager, die freiwillig in das Internet eintauchen und nur noch unter Gewaltanwendung in die Realität zurückfinden.

Neulich hat die „digitale Demenz“ ganz unerwartet ein prominentes Opfer gefordert: die Direktorin der österreichischen Nationalbibliothek, Johanna Rachinger. Sie hatte beschlossen, die Nationalbibliothek in einen Nationalserver umzuwandeln. In 20Jahren soll es dort Bücher nur in elektronischer Form geben.

Letzte Bastion der Langsamkeit

Diese Nachricht schlug ein wie ein Blitz. Nicht bei den Bücherwürmern, die sowieso schon im Aussterben begriffen sind, sondern bei jenen, die sich mit dem E-Book nicht anfreunden wollen. Kurzum: Es riecht nach einer Bücherverbrennung – einer digitalen zwar, aber trotzdem.

Spätestens jetzt wäre es ratsam, die Frau Direktor an die unbestrittenen Vorteile des Papierbuches zu erinnern, die gerade in der Ära des E-Books an die Oberfläche gespült werden. Zu diesem Zweck stelle man sich einen Planeten vor, auf dem das E-Book und das Papierbuch gleichzeitig auf den Markt geworfen werden. Der Kunde wird nicht wie auf der Erde von einem fortschrittlich anmutenden Spielzeug geblendet, sondern darf objektiv zwischen zwei neuen Produkten wählen.

Schon nach dem ersten Vergleich entpuppt sich das Papierbuch als das eindeutig bessere Gerät: resistent gegen Temperaturunterschiede, keine Lichtreflexionen, in Jahrhunderte gehende Lebensdauer, extreme Robustheit gegen Erschütterungen und größere Pannen – ganz zu schweigen von einer sinnlichen Verbindung zum Gegenstand selbst. Darüber hinaus mutet das Papierbuch hier auf der Erde wie die letzte Bastion der Langsamkeit. Und nicht nur.

Es ist nach wie vor das wirkungsvollste Gerät, mit dem die Menschheit eine ihrer hervorragendsten geistigen Errungenschaften am Leben erhalten kann: die Konzentrationsfähigkeit. Diese wurde uns nämlich nicht in den Schoss gelegt und will trainiert werden. Und nirgendwo klappt das besser als auf Papier.

Es gibt so gut wie keinen Lektor, geschweige denn Autor (außer vielleicht Paulo Coelho), der schwerwiegende Textkorrekturen auf dem Bildschirm vornehmen würde. Jeder druckt aus. Der Bildschirm, egal mit welcher Auflösung, ist definitiv nicht unser Freund. Die Beweise dafür kommen von überall dort, wo Bildschirme angewendet werden.

Der Bildschirm macht krank

Abgesehen von beschleunigter Schädigung der Sehkraft und chronischen Migräneanfällen untergräbt der Bildschirm unsere kognitiven Fähigkeiten. Als Kinder hat man uns verboten, zu nah an den Fernseher zu gehen, weil wir erblinden oder krank würden. Heute, da wir erwachsen sind, werden wir geradezu gezwungen, einen Bildschirm bis zu zehn Stunden am Tag aus nächster Nähe zu betrachten. Vor zwei Jahren wurde in einem groß angelegten Experiment Publizistikstudenten in Oxford derselbe Text auf E-Book und Papierbuch vorgesetzt und anschließend abgefragt. Die Papierbuchleser hatten sich 30 Prozent mehr Inhalt gemerkt und konnten mehr Konnotationen ableiten als die E-Book-Kollegen.

Die Dummköpfe da draußen . . .

In Alabama hat man Schülern drei Jahre lang den Lernstoff mit E-Books vorgesetzt. Nach drei Jahren musste man zu Papier zurückkehren, weil diese Schüler eine viel geringere Lernfähigkeit aufwiesen als die gleichaltrigen Kameraden, die Papier verwendet hatten.

Spätestens da wird klar, dass das E-Book nicht wirklich erfunden wurde, um uns „das Lesen zu erleichtern“. Die aknegesichtigen Elektronikgenies, die ihre kleinen Computerkammern nur zwecks Nahrungsaufnahme und Notdurft kurz verlassen, hatten vor etwa zehn Jahren eine Idee, die gar nicht so modern klang: „Hey, lasst uns das Handy größer machen und eine weitere Milliarde verdienen.“ Slogans wie: „Endlich kann der Leser mit tausend Büchern gleichzeitig verreisen“ oder „Sie können es auch im Sonnenlicht lesen“ hat man sich nachträglich als schlagende Argumente gegen das Papierbuch aus den Fingern gesogen.

Auf Fragen wie „Was ist, wenn ein E-Book in die Badewanne oder auf den Boden fällt?“ oder „Wird es in zehn Jahren noch funktionieren?“ ließ man sich lieber gar nicht ein. Warum auch? Zehn Jahre sind heute eine Ewigkeit. Wer weiß, welches neue Elektrospielzeug wir dann den Dummköpfen da draußen vorsetzen? Aber das Seltsamste kommt erst. Es sind ausgerechnet die natürlichen Feinde des E-Books, die seine Existenz nicht nur befürworten, sondern auch noch ankurbeln.

Es ist nicht die Rede von ein paar fehlgeleiteten Literaten, die ihre Texte bei Großanlässen von einem iPad ablesen, nicht einmal vom Grandseigneur der C-Literatur, Paulo Coehlo, der offenbar aufgrund zu häufiger Bildschirmverwendung auf die – gelinde ausgedrückt – groteske Idee kam, alle seine Texte umsonst ins Internet zu stellen.

Leichtes Spiel für Diktatoren

Gemeint sind Großbuchhandlungen und Verlage. Gerade diese beiden Branchen helfen ganz fleißig mit, den elektronischen Kasten unter die Leute zu bringen, ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, dass das E-Book für sie das Ende bedeutet. In San Diego, einer Millionenstadt, gibt es wegen des E-Books keine Buchhandlungen mehr. Und bald könnten die Autoren ihre Bücher auf die eigene Homepage stellen und direkt an den Leser verkaufen.

Es scheint, als würden sich alle sagen, „Lasst uns noch schnell ein paar Euros machen“ und „Nach uns die Sintflut“ – pardon: das E-Book.

Die Zeiten ändern sich, wie Direktorin Rachinger richtig bemerkt hat. Dies ist aber kein Argument, sondern eine Feststellung. Wie oft mag dieser Satz schon im Laufe unserer Geschichte gefallen sein? Tausende Male. Er fiel, als das Römische Reich unterging, als die Pest Europa dezimierte und als man Papierbücher verbrannte.

Die Diktatoren der Zukunft hätten mit einer digitalen Bibliothek ein leichtes Spiel. Ein Klick erledigt alles leise und endgültig. Und wie hat jemand einmal klug bemerkt? Wo Bücher weggeklickt werden, werden auch Menschen weggeklickt.

Die Nationalbibliothek würde dann das erste logische Opfer werden. Nachdem man sie zu einem Nationalserver umfunktioniert hat, wird man das Personal samt Direktion gegen Wartungstechniker tauschen. Und warum eigentlich nicht? Die können den Laden bestimmt genauso gut schaukeln.

Zum Autor


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Radek Knapp
(*3. 8. 1964 in Warschau) lebt seit dem zwölften Lebensjahr in Wien, wo er abwechselnd Gelegenheitsjobs ausübte und Philosophie studierte. Er debütierte mit dem Erzählband „Franio“ (1994) und verfasste unter anderem „Herrn Kukas Empfehlungen“ (1999). Kürzlich erschien von ihm der Roman „Reise nach Kalino“ (Piper Verlag). [Th. Lehmann]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2012)

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