Barack Obamas Anlauf in die zweite Amtszeit

Der amtierende amerikanische Präsident hat im Endspurt des Wahlkampfes die Chancen für seine Wiederwahl erhöhen können. Das böte ihm Gelegenheit, sein größtes Reformprojekt – die Gesundheitsreform – politisch besser abzusichern.

Vor zwei Jahren erlitt die Demokratische Partei von Präsident Barack Obama bei den amerikanischen Halbzeitwahlen eine empfindliche Niederlage. Die Republikaner eroberten die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Schon wurde damals wild spekuliert, dass Obamas Chancen auf eine Wiederwahl als Präsident 2012 im Sinkflug seien.

Aber die damaligen Untergangsszenarien für Obama waren voreilig. Sie ließen unberücksichtigt, dass Präsidenten – vor allem in ihrer ersten Amtszeit – bei den Halbzeitwahlen häufig schlecht abschneiden.

Dass die Republikaner die Kontrolle über das Repräsentantenhaus gewannen, bot Obama sogar den Vorteil, dass er und seine Demokraten nicht mehr allein zur Verantwortung gezogen werden konnten, wenn die Wirtschaft nicht wieder anspringen sollte. Schon damals war klar, dass auch für Obamas Wiederwahlchancen der Zustand der US-Wirtschaft entscheidend sein würde.

Obamas Präferenz für Inhalte

Immer wieder wurde auf folgenden Unterschied zwischen Bill Clinton und Barack Obama hingewiesen: Clintons Interesse galt der politischen Darstellung, Obama hingegen konzentriere sich mehr auf die politischen Inhalte. Obama unterstrich wiederholt, dass für ihn nicht die Wiederwahl primär sei, sondern die Umsetzung von Politikinhalten – auch um den Preis einer Wahlniederlage.

Damit befindet sich Obama in einer gewissen amerikanischen Tradition. George Washington, der erste amerikanische Präsident, verzichtete freiwillig auf eine dritte Amtszeit, die laut Verfassung möglich gewesen wäre, da es bis ins 20. Jahrhundert hinein für Präsidenten keine Amtszeitbegrenzungen gab. Für die europäischen Monarchen war der damalige Schritt George Washingtons überraschend. Der englische König George III. soll ihn angeblich mit den Worten kommentiert haben: „If he does that, he will be the greatest man in the world.“

Obama realisierte mit der Gesundheitsreform das wahrscheinlich größte amerikanische Sozialprojekt der letzten Jahrzehnte – den „Patient Protection and Affordable Care Act“, auch kurz Obamacare genannt. Die Obamacare wurde gegen den erbitterten Widerstand der Republikaner im Kongress durchgesetzt. Das war nur deshalb möglich, weil die Demokraten im Senat kurz über eine ausreichend qualitative Mehrheit jenseits der 50 Prozent verfügten.

Obamacare wurde rechtlich angefochten. Erwartet wurde vielfach, dass das Gesetzeswerk zur Gänze oder zumindest in Teilen aufgehoben werden würde. Der Oberste US-Gerichtshof beschloss aber – beinahe spektakulär –, die Gesundheitsreform nicht zu kippen: Damit wurde die Gesundheitsreform wieder auf die politische Ebene zurückdelegiert.

Gesundheitsreform ein Muss

So lässt sich interpretieren, dass zumindest die Mehrheit der Verfassungsrichter der Ansicht ist, dass es im amerikanischen Gesundheitsbereich dringender Reformen bedarf.

Im Vergleich mit Europa werden folgende Probleme des amerikanischen Gesundheitssystems deutlich. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist in der EU höher als in den USA. Gleichzeitig sind die Gesundheitsausgaben der USA (gemessen in Prozent des BIPs) fast doppelt so hoch wie die der EU (EU-15). Wie ist das möglich? Eine Erklärung lautet, dass Gesundheitssysteme längerfristig nur dann finanzierbar sind, wenn alle, also auch die Gesunden (nicht nur die Kranken), finanziell daran partizipieren.

Widersprüchliche Bewertung

Als zentrale Ansätze von Obamas Gesundheitsreform sind zu nennen: Künftig müssen alle Amerikaner eine Krankenversicherung abschließen. Ferner werden die Versicherungsunternehmen strengeren Reglementierungskriterien unterworfen. Letztlich soll sich dieses System dem Zustand einer allgemeinen Krankenversicherung in den USA annähern. In Meinungsumfragen wird die Gesundheitsreform nach wie vor widersprüchlich bewertet und gesehen.

Mitt Romney ist bei der heutigen Präsidentschaftswahl Obamas republikanischer Herausforderer. Romney war 2003 bis 2007 republikanischer Gouverneur im eher liberal ausgerichteten Massachusetts. Unter seiner Federführung wurde dort eine Gesundheitsreform beschlossen, das „Massachusetts Health Care Insurance Reform Law“, auch genannt Romneycare. Mit folgenden Elementen: Alle „Residents“ von Massachusetts müssen eine Krankenversicherung auf Bundesstaatsebene abschließen, und die lokalen Versicherungen werden ebenfalls stärker reglementiert.

Für dieses Reformvorhaben ging Romney vor Ort auch eine Große Koalition mit den dortigen Demokraten ein. Ähnlichkeiten zwischen Romneycare und Obamacare sind nicht zu übersehen.

Ironische Kommentare verweisen darauf, dass die Republikaner sagen hätten können: Obama hat ein „republikanisches Gesetz“ kopiert! Stattdessen polemisieren die Republikaner auf nationaler Ebene gegen Obamacare, auch Romney positionierte sich als vehementer Kritiker. Zwar kündigte er an, dass er im Fall eines Wahlsieges Obamacare nicht komplett abschaffen würde, ließ aber offen, was davon bestehen bleiben sollte.

Für Obama würde hingegen eine Wiederwahl als Präsident bedeuten, dass er sein größtes innenpolitisches Reformprojekt nach dem juristischen Sieg auch politisch absichern könnte.

Romneys Wirtschaftskompetenz

In Umfragen liefern sich Obama und Romney bis zuletzt ein Kopf-an-Kopf-Rennen („to close to call“). Anfang Oktober sah es für Obama noch etwas kritischer aus. Dazu kommt, dass das Wahlergebnis über die Wahlmänner der einzelnen Bundesstaaten komplex aufsummiert wird, also einzelne Swing States die Wahl entscheiden können – auch gegen die Wählermehrheit, was in der Vergangenheit bereits vorkam.

Die amerikanische Wirtschaft läuft nicht wirklich gut (aber auch nicht schlechter als in Europa), hier hat Romney einen öffentlich wahrgenommenen Kompetenzvorsprung. Umgekehrt führt Obama bei sozialer Themenkompetenz. Zuletzt, so schien es, gewann Obamas Wahlkampf wieder an Dynamik, seine Wahlmaschinerie war schon immer gut geölt.

Möglicherweise wird Romney die heutige Präsidentenwahl gewinnen. Mein persönlicher Wahltipp lautet aber, dass der nächste Präsident der USA erneut Barack Obama heißt. Das wäre ein Beweis dafür, dass in unseren komplexen Demokratien auch mit Inhalten erfolgreich Politik gemacht werden kann. Wir werden sehen.

Zum Autor


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David F. J. Campbell wurde 1963 in Wien geboren. Er ist Research Fellow (Senior Scientist) an der Iff-Fakultät der Universität Klagenfurt, lehrt Politikwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet im Bereich Qualitätsentwicklung an der Universität für angewandte Kunst, Wien. Seine beiden wissenschaftlichen Arbeitsfelder sind Hochschulforschung und Demokratiequalität. [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2012)

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