Welche Lehren Europa aus der US-Präsidentenwahl ziehen kann

Wachsende Vielfalt ist kein Grund dafür, dass die Entwicklung hin zu einer europäischen Föderation stecken bleiben muss.

Der Wappenspruch der USA lautet „E Pluribus Unum“ – Einheit aus der Vielfalt. Was das bedeuten kann, wurde am 6. November eindrucksvoll demonstriert. Der US-Präsident war erfolgreich, weil er das komplizierte Puzzle der amerikanischen Vielfalt zu einer Allianz zwischen der einzigen natürlichen Mehrheit – der Frauen – mit ethnischen und religiösen Minderheiten politisch umzusetzen verstand.

Das, was Barack Obama schon 2008 zusammenbrachte, was damals jedoch auch als Einmalerfolg angesichts eines zuletzt extrem unpopulären republikanischen Präsidenten gewertet worden war, konnte trotz seiner insgesamt nicht sehr beeindruckenden Performance als Präsident wiederholt werden: Die Mehrzahl der Frauen, der Afroamerikaner, der Hispanics und der Jungen, der Katholiken und der Juden entschieden sich für Obama und sicherten so seinen Erfolg. Verlierer war das in mehrfacher Hinsicht alte Amerika – das der alten Männer, der alten protestantischen Weißen. Amerikas Buntheit hat sich politisch durchgesetzt. Diese Entwicklung der USA beinhaltet eine klare Botschaft für Europa.

Abnehmende Eindeutigkeit

Die in Europa noch immer zu beobachtende Vorstellung, eine Demokratie würde gesellschaftliche Homogenität voraussetzen, ist falsifiziert – wie auch das Beispiel Indiens zeigt, das (ähnlich wie Europa, aber anders als die USA) auch ein Land des Nebeneinanders einer großen Zahl von Sprachen ist.

Die Abnahme gesellschaftlicher Homogenität in den USA gefährdet ganz offensichtlich nicht die Integrations- und Demokratiekapazität des Landes. Amerika wird bunter – und bleibt dennoch eine demokratische Union. Warum sollte die europäische Buntheit für eine demokratische, eine politische Union Europas ein unübersteigbares Hindernis sein? Warum sollten die kulturellen Besonderheiten polnischer oder portugiesischer, protestantischer oder agnostischer oder auch muslimischer Europäer nicht Platz in einer Europäischen Union haben, die Vielfalt nicht negiert, sondern respektiert?

Dass die EU auf unterschiedlichen, ja gegenläufigen nationalen Narrativen baut, die sich nicht leicht zu einer europäischen Identität verbinden lassen und auch immer wieder Anlass zu nationalistischen Reflexen sind; dass die EU mit einem starken Gefälle ökonomischer und kultureller Entwicklungen zu kämpfen hat – das alles schafft Probleme.

Aber diese wachsende Vielfalt und die damit verbundene Komplexität sind kein entscheidender Grund dafür, dass die Entwicklung hin zu einer europäischen Föderation stecken bleiben muss.

Und noch eine Lehre kann Europa aus dem 6. November ziehen: Dass das Repräsentantenhaus weiterhin eine republikanische Mehrheit aufweist, dass also die USA abermals durch „split government“ regiert wird – und der notwendige Kompromiss zwischen Präsident und Kongress äußert mühsam sein wird, deutet auf eine lange negierte amerikanisch-europäische Gemeinsamkeit.

In den meisten europäischen Demokratien und in der EU selbst fehlt es an eindeutigen Mehrheiten im Wahlvolk und in den Parlamenten. Entscheidungen müssen nach dem Muster einer Konkordanz- oder Konsensdemokratie ausgehandelt werden.

Das bedeutet, dass Blockaden und damit immer wieder auftretende politische Lähmungen zum Alltag des Entscheidungsprozesses gehören. „Split government“, 2012 in den USA bestätigt, ist die amerikanische Variante des europäischen Zwanges zur Bildung von Koalitionen.

Arend Lijphart hat das demokratische Modell der EU als Sonderform der Konkordanzdemokratie ausgewiesen.

Demokratie à la Schweiz

Tatsächlich weist die EU deutlich Züge auf, wie sie in einer auf Machtteilung aufgebauten Demokratie im Zentrum stehen: ein Europäisches Parlament, dessen Entscheidungen zumeist von den beiden großen Fraktionen ausgehandelt und dann gemeinsam getragen werden, eine Kommission, die aus Personen unterschiedlicher parteipolitischer Herkunft besteht und in vielem einer Großen Koalition gleicht, und eine Tendenz, hinter den Kulissen Kompromisse auszuhandeln, bevor man mit Lösungen vor die Öffentlichkeit tritt.

Eine solche Demokratie à la Schweiz ist eben auch die EU. Und dass auch die Demokratie in den USA solche Merkmale aufweist, widerspricht zwar der üblichen Annahme eines durch eine dominante Persönlichkeit charakterisierten Präsidentialismus. Diese Parallele unterstreicht aber die Analogie demokratischer Prozesse auf beiden Seiten des Atlantiks. Diese Analogie weist auf einige weitere Gemeinsamkeiten zwischen USA und EU. Die 1787 in Philadelphia ausgehandelte US-Verfassung war ein Kompromiss zwischen Staaten, die oft unterschiedliche Interessen verfolgten.

Amerikanische Kompromisse

Die Südstaaten wollten Garantien, dass die Sklaverei nicht durch die Verfassung beeinträchtigt wird. Die Nordstaaten waren durch die wachsende moralische Empörung bestimmt, die sich gegen die Institution der Sklaverei richtete. Der Kompromiss: Die Sklaverei blieb konstitutionell ausgeklammert – bis zum Bürgerkrieg.

1787 wollten die kleinen Staaten, dass die Machtverteilung innerhalb der Union in erster Linie auf die Staaten selbst abgestellt wird; die großen hingegen, dass die Bevölkerungszahl entscheidend sein soll. Der Kompromiss: Der Senat zählt Staaten, das Repräsentantenhaus baut auf der Zahl der Köpfe; und das „Electoral College“ berücksichtigt beides, das Prinzip der Staatlichkeit und das der Einwohnerzahl – ein Kompromiss im Kompromiss.

Vor solche oder ähnliche konstitutionelle Herausforderungen war und ist die EU ebenfalls gestellt. Zwar sind die Menschen- und Grundrechte (anders als in den USA von 1787) in Europa heute außer Streit gestellt. Aber die Gewichtung der Staaten bei der Verteilung der Sitze im Parlament, bei der Nominierung von Mitgliedern der Kommission (auch des Europäischen Gerichtshofes), vor allem aber im Rat ist eine prinzipiell und dauerhaft nicht gelöste Frage, die mit jedem Erweiterungsschritt dringlicher wird.

EU ist ein spezieller Fall

„E Pluribus Unum“? Das könnte auch der Wappenspruch des sich einigenden Europa sein. Die EU ist zwar ein spezieller Fall, der in der Lehre der politischen Systeme zwischen dem Typus Bundesstaat und dem Typus Staatenbund eingeordnet wird. Und die Unterschiede zwischen der US-amerikanischen und der europäischen Vielfalt können nicht ignoriert werden. Aber so verschieden vom Typus eines Bundesstaates à la USA ist dieses Europa ganz bestimmt nicht mehr. Die US-Wahlen vom 6. November haben das wieder in Erinnerung gerufen.


Dieser Kommentar entstand in Kooperation mit der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik; er ist Teil von deren neuer Serie „Policy Brief“: www.oegfe.at/policybriefs


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor

Anton Pelinka (*14. 10. 1941 in Wien) studierte Rechts- und Politikwissenschaft in Wien. Von 1975 bis 2006 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Seit September 2006 Professor für Politikwissenschaft und Nationalismusstudien an der Central European University in Budapest. [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.