Die Wiederkehr von Hass und Verachtung und ihr Gegengift

Von Beginn an gibt es dieses Bewusstsein, dass angesichts der Größe Gottes kein Mensch einem anderen im Wert überlegen ist.

Mich beunruhigt die Wiederkehr von Hass und Verachtung in den öffentlichen Diskurs. Ich befürchte, dass es zunehmend salonfähig wird, zu verachten.

Das mag damit zusammenhängen, dass die Möglichkeit anonymer Wortmeldungen im Internet ein besonderes Treibhausklima für verächtliche Sprache geschaffen hat. Etwa, wenn eine pseudokatholische Website so wollüstig wie anonym der verbalen Erniedrigung huldigt.

Aber auch andere sind nicht zimperlich. Eine deutsche Journalistin wurde kürzlich nach einem Talkshow-Auftritt von elektronischen Hasstiraden überschüttet und musste sich unter anderem „Nazi-Tussi“ nennen lassen. Ein Journalistenkollege – der sich allerdings danach dafür entschuldigte – twitterte: „Hexe! Verbrennen!“

Die elektronische Kommunikation trägt in eine größere Öffentlichkeit, was bisher bestenfalls im kleinen Kreis geäußert wurde. Hetzerische Pamphlete gab es auch schon früher, aber da waren es billig kopierte Blätter in kleiner Stückzahl, nicht von einem Millionenpublikum abrufbare Webinhalte. Und nicht nur Erwachsene verachten heute im weiten Kreis virtueller Aufmerksamkeit, sondern auch schon Kinder, wenn sie etwa Videos ins Netz stellen, auf denen Gleichaltrige gemobbt werden.

Vom Wutbürger zum Hassbürger?

Aggressive Respektlosigkeit ist aber nicht auf das virtuelle Milieu beschränkt. Wenn es um Außenseiter geht, ist auch in der realen politischen Agitation der verächtliche Ton öfter zu hören, mit der trotzigen Emphase derer, die sich von einer Mehrheit zum Hass legitimiert, aber von einer Minderheit zensuriert fühlen. Und in deren Kritik am Aufwand für Ausländer, Asylwerber, entlassene Straftäter, psychisch Kranke, schwache Schüler, Verhaltensauffällige, Arbeitslose und andere Minderheiten mitschwingt: Sie sind es doch im Grunde gar nicht wert. Die große Kulturleistung der Ächtung verächtlichen Redens im öffentlichen Diskurs, errungen in der Nachkriegszeit, verliert an Kraft. Vielleicht, weil die Erinnerung an die verheerenden Folgen kollektiver Verachtung im 20.Jahrhundert verblasst. Weil Verachtung aus Unsicherheit und Souveränitätsverlust resultiert, kann es auch sein, dass die Wirtschaftskrise das Ihre dazutut: Wessen Selbstgewissheit ins Wanken kommt, der schlägt eben eher um sich.

Wird der kritische Bürger auf dem Weg über den Wutbürger zum Hassbürger?

Ich verstehe, dass manche darauf antworten: Verachtung gehört verboten und bestraft. Denn Verachtung ist eine scharfe Waffe, die töten kann. Sie verwundet die Scham des Gegenübers – im Extremfall bis zum Totalverlust der Lebensfreude. Andererseits ist es aber schwierig abzugrenzen: Wo endet die legitime Kritik, wo beginnt Verachtung? Wo werden bloß Lebensweisen gewichtet und bewertet, und wo wird Menschen die Ehre genommen?

Oft gelingt es nicht – auch der Kirche nicht –, über Sachverhalte so zu sprechen, dass nicht doch Menschen sich in ihrem Selbstwert verletzt fühlen – etwa, wenn die Kirche sich für einen Ehebegriff einsetzt, der auf der gegenseitigen Ergänzung von Mann und Frau aufbaut, und gleichgeschlechtlich empfindende Menschen sich dadurch in ihrer Würde angegriffen sehen. Daran müssen wir arbeiten.

Aber hier mit dem Strafgesetz zu kommen, ist auch aus anderen Gründen problematisch: Polizeigewalt ist in Fragen der Gesinnung und Haltung fragwürdig. Sie kann eine Subkultur des Hasses nicht auflösen, sondern nur ins Verborgene abdrängen.

Es gibt sicherlich ein Ausmaß der Verhetzung, das vom Staat zu ahnden ist. Die Aneignung einer menschenfreundlichen Haltung ist aber letztlich eine Frage der Charakterbildung, die nicht an den Gesetzgeber oder die Exekutive delegiert werden kann.

Einüben ins Christsein

Und hier kommt Weihnachten ins Spiel, weil die christliche Botschaft genau bei dieser Charakterbildung eine Rolle spielen kann: Gott wird Mensch, weil er die Menschen liebt und jedem Einzelnen nahe sein will. Sich einüben ins Christsein heißt daher: immer mehr erfahren, dass wir alle Geschwister sind – Kinder Gottes, gleich an Würde und Hoheit.

Im Lauf der Jahrhunderte hat die Kirche das gelegentlich selbst verdunkelt. Aber von Beginn an gibt es dieses Bewusstsein, dass angesichts der Größe Gottes kein Mensch einem anderen im Wert überlegen ist. Dass niemand Verachtung verdient, weil Gott jeden so sehr achtet, dass er sich für ihn kreuzigen lässt. Und dass Gott im Kleinen und Geringen zu Hause ist: Er wird im Stall geboren, an der Peripherie eines Weltreiches, als Kind eines winzigen, unterdrückten Volkes, er bleibt ohne Frau und Kinder, er stirbt den schmachvollsten Tod der damaligen Zivilisation. Dieses christliche Bewusstsein der Menschenwürde ist das eine. Das andere ist vielleicht noch prägender, noch tiefer wirksam in der Entfaltung der Geschichte: die Befreiung von der Knechtschaft des Todes.

Alles verliert seinen Stachel

Dieser vielleicht etwas sperrige Ausdruck meint nicht, dass es den Tod auf dieser Welt nicht mehr gäbe. Sondern dass, wenn man sich wirklich in die unendliche Güte Gottes eingewöhnt, alles seinen Stachel verliert: der soziale Tod, der wirtschaftliche Tod, der familiäre Tod, der Tod der eigenen Jugend, des Ehrgeizes, der Gesundheit, des eigenen Körpers. Nichts kann einen dann noch existenziell beunruhigen.

Seit jeher hat es etwa zum Krieg gehört, den Feind verächtlich zu machen, um die dem Menschen innewohnende Tötungshemmung abzubauen. Aber im Angesicht der Auferstehung reift die Erkenntnis, dass kein Feind wirklich gefährlich werden kann, denn das, was wirklich zählt – die Freundschaft mit dem menschgewordenen Gott –, ist unverbrüchlich, ewig und unzerstörbar.

Nur aus dieser Erkenntnis wird das Gebot dem Menschen möglich: „Liebet eure Feinde und betet für eure Verfolger.“ Wer an der inneren Souveränität baut, die ihm ermöglicht, seine Feinde zu lieben, muss auch keine Angst mehr haben vor denen, die ihm überlegen sein könnten, und diese Angst dadurch kompensieren, dass er die ihm Unterlegenen verachtet.

Ständiges Ringen um innere Ruhe

Mit und in dieser Haltung ist das Christentum oft gescheitert. So wie auch jeder Christ um diese innere Ruhe immer wieder von Neuem ringen muss. Und doch liegt hier vielleicht der größte Beitrag des Christentums zur abendländischen Zivilisation.

Es mag sein, dass die Wiederkehr der Verachtung eine Begleiterscheinung der schwindenden Prägekraft des Christentums ist. Aber vielleicht könnte das Christentum aus einer Minderheitenposition heraus, aus Schwäche viel effektiver in den Menschen jene Haltung bestärken, die ein bekanntes Gebet in einfachen Worten zum Ausdruck bringt: „Dass ich verbinde, wo Streit ist, verzeihe, wo man beleidigt, dass ich liebe, wo man hasst?“ Das ist nicht Nachgiebigkeit, sondern wirklicher Friede. Weihnachtsfriede.

Zum Autor


E-Mails an: debatte@diepresse.comChristoph Schönborn (*22. 1. 1945 in Böhmen) studierte Theologie und Philosophie in Bornheim-Warburg, Wien und Paris; Professor für katholische Dogmatik an der Uni Freiburg (Schweiz). 1991 von Papst Johannes Paul II. zum Weihbischof, 1995 zum Erzbischof von Wien ernannt. Seit 1998 Mitglied des Kardinalskollegiums. [APA]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2012)

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