Das Kirchenschiff des Ungewissen

Es schwinden die Gesichter und Figuren dieser seltsamen jungen Männer in der Kirche, die nicht aufgeben wollen.

Es ist so surreal, dass momentan wirklich in einer Kirche mitten in Wien um die vierzig Flüchtlinge sitzen und seit über einer Woche ihr Schwinden durch Hungerstreik durchziehen. Dass sie gleichzeitig „in den blauen Himmel“ hinein hungern, weil ihre Forderungen so weit weg sind von der Realität der Gesetze – nach kurz aufeinanderfolgenden Regierungen, Innenministern und ständigen Verschärfungen des Asylrechts, sodass jemand jetzt dringend die Möglichkeiten geduldig abgleichen müßte, Erweiterungen vorschlagen, Brücken erarbeiten.

Gleichzeitig befürchtet man, dass diese Flüchtlinge mit ihrem selbstschädigenden Hungerstreik – wie der palästinensische Künstler Taysir Batniji sagen würde – „ihre eigene Befreiung überspringen“ wollen, ihr Leben auf einem Weg opfern, auf dem sie niemals ihr Zuhause erreichen werden.

Todestrigger und Nachbilder

Schon mit Arigona hatte ich dieses surreale Gefühl – ein Kind, ein Mädchen, das Videobotschaften sendet, mit der Drohung, sich selbst zu töten. Todestrigger und Härte. „Österreich“ läßt sich von einer Vierzehnjährigen nicht „erpressen“, war die Antwort. Und Polizei, Justiz, Innenminister, Parlament und ein Pfarrer, der sich von der ÖVP hintergangen fühlte und ein Mädchen auffangen konnte, das hier leben wollte.

Als sich in Belgien iranische Flüchtlinge den Mund zunähten, andere auf Kräne kletterten und dort tagelang verweilten, in den Nächten nicht einschlafen durften..., erinnerten mich diese Bilder an das Gedicht über den Holocaust des israelischen Dichters Jehuda Amichai, in dem Gott in seiner Dunkelkammer die Gesichter der Toten entwickelt.

Taysir Batniji schuf Kunst aus den Negativen von Fotos mit den ausgelöschten Gesichtern der palästinensischen „Märtyrer“ weiter – „es entstand ein Schwarz-Weiß-Mosaik irgendwo zwischen Ikonenmalerei und Röntgenaufnahmen“, schreibt Abdul Rahim Al-Shaikh im Katalog „Islamische Bildwelten und Moderne“. Ein Nachbild – das Bild, das im Inneren des Auges bleibt, wenn man die Augen schließt.

Ähnlich schwinden die Gesichter und Figuren dieser seltsamen jungen Männer in der Kirche, die nicht aufgeben wollen. Nicht wissen, wohin und wie weiter, aber dranbleiben auf ihrem Kirchenschiff des Ungewissen.

FPÖler als „neue Flüchtlinge“?

Kardinal Schönborn sagte dem Flüchtling Shahjahan, dass er für sie nichts tun könne. Es ist so seltsam, dass die pakistanischen Taliban diesen jungen Mann mit dem Spitznamen Shani kidnappten, mit Steroiden vollpumpten, damit er ein Kämpfer wird und er zehn Kilo zunahm, bevor er flüchten konnte (sein Freund starb dabei im Kugelhagel) und er hier in Österreich seine Kilos verliert.

Irreal auch, wie sich FPÖ-Politiker, die sich schon wieder benachteiligt und vernachlässigt fühlen, auf die Flüchtlinge stürzen. Sind sie auch „die neuen Flüchtlinge“?

In der Berliner Islam-Ausstellung gab es zumindest Fluchtlinien-Modelle, wie die der palästinensischen „Flaneure“ in ihren Tunneln, diesen Flüchtlingen hier in Wien fehlen die gesellschaftlich notwendigen Fluchtlinien aus den Engen und Zwängen einer Gesellschaft, die sich so nach innen und gegen sie selber richtet.

Wird die Votivkirche denn zu einem deterritorialisierten Raum werden können, in dem die Menschen versuchen, geschehenes Unglück wiedergutzumachen und allen subversiven und destabilisierenden äußeren Bedingungen zum Trotz eine Veränderung zum Guten bewirken? „Die Trauer ist der Widerstand gegen das Verschwinden.“


Kerstin Kellermann war Kuratorin der Ausstellung „Fluchtlinien. Kunst und Trauma“, gemeinsam mit Birgit Haehnel, Kunsthistorikerin und Dozentin an der TU Darmstadt (Soho in Ottakring 2012).


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.01.2013)

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