Ethikunterricht: Die große Anmaßung der Religionen

Nur ein Ethikunterricht für alle kann einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben in einer multireligiösen Gesellschaft leisten.

Kaum eine Woche vergeht, in der nicht ein Vertreter einer in Österreich anerkannten Religion gegen einen Ethikunterricht für alle protestiert und stattdessen verlangt, dass nur jene Kinder, die keinen Religionsunterricht besuchen, verpflichtend an einem Ethikunterricht teilnehmen sollen. Das ist eine große Anmaßung.

Diese Forderung unterstellt, dass Menschen ohne Religion moralisch nicht gefestigt sind, also gewissermaßen den Keim des Bösen in sich tragen. Dem kann nicht heftig genug widersprochen werden.

Kinder mit und ohne Religionsunterricht haben Defizite. Ohne Religionsunterricht fehlt einerseits das Wissen über wesentliche Teile unserer Kultur. Andererseits erfahren Kinder, die von einem konfessionellen Religionslehrer indoktriniert werden, über andere Religionen meist nur, dass sie falsch sind.

Im absoluten Wahrheitsanspruch von Religionen liegt aber die Wurzel der Intoleranz. Das kann nicht zu einem friedlichen Zusammenleben in einer multireligiösen Gesellschaft beitragen.

Ein Ethikunterricht für alle müsste daher auch eine Art Religionskunde enthalten, also über die wichtigsten Weltreligionen informieren. Dabei geht es um Wissensvermittlung. Was der Einzelne glaubt, muss dem Religionsunterricht vorbehalten bleiben.

Der Wert der Nichtgläubigen

Bei den Gegnern eines für alle geltenden Ethikunterrichts schwingt offensichtlich die Hoffnung mit, dass die ständig steigende Zahl der Abmeldungen vom Religionsunterricht sinkt, wenn den Schülern keine Freistunde winkt, sondern eine Stunde Unterricht in einem anderen Fach. Das könnte sich als trügerisch erweisen.

Möglicherweise spielt aber auch die Angst eine Rolle, dass Kinder und Jugendliche an ihren Religionslehrer vermehrt Fragen stellen, wenn sie in einem Ethikunterricht über andere Religionen und Wertvorstellungen informiert werden. Damit müssten Religionslehrer zu leben lernen.

In Österreich gibt es mehr als eine Million Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, nach den Katholiken die zweitgrößte Gruppe. Die Vorschläge von Katholiken und Muslimen richten sich genau gegen diese Menschen. In einem Ethikunterricht für alle müsste auch darüber informiert werden, dass auch Nichtgläubige wertvolle Menschen sein können. Jeder Mensch muss einem anderen seinen Glauben und seine Religion lassen. Er muss ihm aber auch seinen Unglauben lassen.

Nach einer Untersuchung der angesehenen Pew-Institution in den USA sind Nichtgläubige weit seltener straffällig als Gläubige. Man kann das natürlich auf den in der Regel höheren Bildungsgrad von Atheisten und Agnostikern zurückführen. Es beweist aber auch, dass man Wohlverhalten in einer Gesellschaft nicht nur erreicht, indem man Sünden mit Strafen im Jenseits bedroht, wie das bei den Christen der Fall ist – oder indem man die Muslime auf die sklavische Befolgung eines Buches aus dem siebten Jahrhundert einschwört.

Die Verfechter religiöser Wertvorstellungen verweisen oft darauf, dass Religionslosigkeit zu den Diktaturen von Nationalsozialismus und Kommunismus geführt hätte. Dabei wird gerne übersehen, dass beide Systeme quasireligiöse Komponenten hatten.

Hitler wurde übrigens katholisch erzogen. Er ist offiziell nie aus der Kirche ausgetreten, ja er berief sich wiederholt auf Gottes Vorsehung. Stalin besuchte ein Priesterseminar in Georgien. Was hat es genützt? Mit religiöser Erziehung allein schafft man keine guten Menschen.

Es gibt aus der Neuzeit viele Beispiele von menschenverachtenden Diktaturen, die sich explizit als christlich bezeichneten. Franco in Spanien und Pinochet in Chile genossen die massive Unterstützung der Kirche ebenso wie das Obristenregime in Griechenland.

Gläubige sind nicht friedliebender

Die Unmenschlichkeit islamischer Regime kann man jeden Tag den Medien entnehmen. Schiiten ermorden Sunniten und umgekehrt. Hindus töten Moslems und umgekehrt. Mehr Religion bringt leider nicht mehr Frieden.

Es ist nicht Aufgabe dieser Zeilen, die Details eines Ethikunterrichts zu skizzieren. Es sei nur daran erinnert, dass lange vor Jesus und Mohammed die Goldene Regel als wichtige ethische Leitlinie entwickelt wurde. Von Konfuzius (sechstes Jh. v. Chr.) stammt der Satz: „Was du selbst nicht wünschest, tu nicht den anderen.“

Sokrates meinte im fünften Jahrhundert vor Christus: „Niemals ist Beleidigen noch Wiederbeleidigen recht, noch auch, wenn einem Übles geschieht, sich dadurch zu helfen, dass man wieder Übles zufügt.“ Immanuel Kant hat das dann in der Neuzeit auf folgende Formel gebracht: „Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann.“ Ein Wohlverhalten durch Androhung von Strafen im Jenseits kann nicht funktionieren, wenn eine wachsende Anzahl von Menschen an dieses Jenseits nicht glaubt und daher andere Anleitungen zum Handeln braucht.

Ein grausamer Gott

In einer säkularen Ethik müssen Richtlinien des Handelns argumentativ untermauert werden. In einer religiösen Ethik kommen die Regeln von Gott, sind also nicht zu diskutieren oder zu relativieren.

Niedergelegt sind diese Regeln in den so genannten heiligen Büchern Bibel und Koran. Beide Bücher taugen allerdings nur beschränkt als ethische Fundierung einer modernen Gesellschaft. Der Gott des Alten Testaments ist ein besonders grausamer. Auch im Neuen Testament gibt es Passagen, die von einer modernen Gesellschaft nicht akzeptiert werden können. Nur ein Beispiel: Homosexualität wird mit dem Tode bedroht. Diese Textstelle wird von Juden und Christen meist stillschweigend übergangen. Muslime nehmen eine ähnliche Stelle im Koran ernster. Homosexuelle Männer müssen in moslemischen Staaten um ihr Leben fürchten.

Tiefgläubige Menschen sind auch nicht automatisch friedliebender. Gottesliebe ist oft sogar das tragende Motiv für Untaten. Die 19 Attentäter vom neunten September 2001 waren sicherlich die gläubigsten Menschen an Bord der Flugzeuge. Es gibt genug Beispiele aus jüngster Zeit, dass Gott als Vorwand für Mord und Totschlag herhalten musste – in allen Religionen.

Erziehung zu Saubermännern?

Auch der beste Ethikunterricht wird nicht dazu führen, dass nur gute, tolerante Menschen daraus hervorgehen. Ist eine ganze Gesellschaft korrupt, wird es auch ein Ethikunterricht nicht schaffen, die nächste Generation zu lauter Saubermännern zu erziehen. Moslemische Buben, die zu Hause die Unterdrückung der Frau miterleben, werden, wenn überhaupt, ihr Frauenbild nur langsam ändern.

In der multireligiösen Welt würde ein allgemeiner Ethikunterricht allerdings bessere Voraussetzungen für ein reibungsfreies Nebeneinander von Gläubigen verschiedener Religionen schaffen als ein alleiniger konfessionsgebundener Religionsunterricht.

Zum Autor


E-Mails an: debatte@diepresse.comUlrich Brunner (geboren am 12.7. 1938 in Wien), war Schriftsetzer, Korrektor und von 1970 bis 1975 innenpolitischer Redakteur der „Arbeiter-Zeitung“. Seit 1975 als Redakteur im Aktuellen Dienst des ORF, zunächst in der „Zeit im Bild“ als Reporter, später Ressortleiter Innenpolitik, Chefredakteur im Hörfunk und Intendant des ORF-Landesstudios Burgenland. [Archiv]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.02.2013)

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