Wenn gleich der erste in diesem Jahrtausend gewählte Papst abtritt

Gastkommentar. Historische Ereignisse gibt es wirklich. Dann kann eine gute Redaktion beweisen, dass sie auch auf Undenkbares vorbereitet ist.

Spiegel
SchriftEs geschieht um 11.51 Uhr des 11.Februar2013. Eine sogenannte Blitzmeldung der APA informiert Österreichs Redaktionen mit nur vier Worten: „Papst Benedikt wird zurücktreten.“ Rückblickend dürfen sich die Leserinnen und Leser der „Presse“ ausmalen, wie ein Ausnahmezustand bei einer Zeitung verläuft.

Die Aufgabe lautet, innerhalb von sechs Stunden ein möglichst komplettes, objektives, faires Bild eines nahezu unfassbaren Ereignisses und gleich auch seiner Folgen zu zeichnen. Das sind Stunden, in denen Journalisten von Format geben, was sie können.

Um 18 Uhr ist Redaktionsschluss, um 18.30 Uhr wird angedruckt und über Nacht ausgeliefert: Acht kompakte Seiten der Zeitung sind ausschließlich dem Papst-Rücktritt gewidmet. Vom Kommentar „...macht den Weg frei für Neues“ bis zur Analyse „Ein Pontifikat gegen den Relativismus“, von der bis heute nicht abschließend beantworteten Frage „Konnte oder wollte er nicht mehr?“ bis zu der in den Randbereich verwiesenen ersten Putsch-Spekulation, von geschichtlicher Analogie bis zur Vorschau auf das Konklave und das unvermeidliche Rätseln über die Nachfolge gelingt das Werk eindrucksvoll.

Die Redaktion bringt den Tag, an dem vieles schiefgehen könnte, bravourös hinter sich. Sollte sie sich nachträglich fragen, ob acht Seiten vielleicht zu viel des Guten waren, kann ich sie beruhigen. Wer sonst sollte diesen Schwerpunkt setzen?

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Adrenalinstöße sind qualitätsfördernd. Wenn sich die Redaktion bloß durch die Mühen der Ebene kämpft, tröpfelt Adrenalin offenbar nicht immer. Wie die Bausparkassen abschneiden, ist ein jährliches oder sogar quartalweise wiederkehrendes Thema. Diesmal schafft es „Die Presse“, in ein- und derselben Ausgabe zwei Autoren an zwei Stellen kurze Vermerke schreiben zu lassen, die einander deutlich widersprechen (15.2.).

In dem einen erreichen Einlagen und Ausleihungen „Rekordniveau“, im anderen erleiden die Bausparkassen einen „Dämpfer“. Vermutlich stimmt je nach Definition beides, aber die journalistische Kunst bestünde darin, sich zum Kern der Wahrheit vorzuarbeiten. Darauf müssen die Leser drei Tage warten, bis dann doch ein größerer Zusammenhang hergestellt wird.

Jeden Monat wird die Arbeitsmarktstatistik veröffentlicht. „So viele Arbeitslose gab es noch nie“, lautet die Überschrift für die Jänner-Zahlen (2.2.), und im nebenstehenden Kommentar wird etwas doppeldeutig erklärt: „Noch nie haben so viele Menschen in Österreich so wenig gearbeitet.“ Ein alter Verdacht lebt in mir auf und formt sich zur journalistischen Bauernregel: Ein Satz mit „noch nie“ traf die Wahrheit noch nie. Zufällig erwähnt in derselben Ausgabe Hugo Portisch wenige Seiten weiter hinten im Zusammenhang mit seiner Republik-I-Serie, was „so viele Arbeitslose wie noch nie“ wirklich heißen kann. Das heutige „noch nie“ ist im Vergleich dazu geradezu kümmerlich.

Eine übersichtliche, wenn auch wegen blauer Schrift auf dunkelblauem Hintergrund wieder einmal mit reduziertem Lesekomfort gestaltete Aufmachergrafik zeigt die Entwicklung der EU-Ausgaben. Der 2013 auslaufende Finanzrahmen wird mit 993,6 Milliarden Euro angegeben, was richtig ist (9.2.). Tags darauf wird diese Position in der „Presse am Sonntag“ aber mit 976 Milliarden beziffert. Das wäre um fast 18 Milliarden weniger. Jemand könnte einwenden, dass das in unserem Jahrzehnt, in dem die Milliarden und Billionen nur so durcheinanderfliegen, auch schon egal ist. Gerade deshalb sollten die wenigen Fixpunkte nicht relativiert werden.

Der EU-Ratspräsident wollte die Ratsmitglieder „ähnlich einer Konklave einsperren, bis eine Lösung gefunden ist“ (9.2.). Das Konklave, selbst wenn es vom Vatikan nach Brüssel verlegt wird, bleibt sächlich.

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Über dem Ural sind außerirdische Gesteinsbrocken abgestürzt. Die Zeitung hält an ihrer Version fest, es handle sich um einen „Asteroidenabsturz“, viele andere Medien schreiben von einem „Meteoriten“. (16.2.) „Die Presse“ erhärtet ihre Meinung durch Experten, also folgen auch wir Laien der Asteroidenspur. Restzweifel gäben Stoff für einen Wissenschaftlerstreit.

Übrigens gibt es in der „Presse“ Erscheinungen, als würden manchmal Satellitentrümmer durch ihre Druckspalten geistern. Dabei handelt es sich um übrig gebliebene Teile grammatikalischer oder stilistischer Korrekturen.

Gefährlich sind sie nicht, aber störend. Zwei Beispiele: „Man erfreute man sich an Haremsbildern europäischer Künstler“ (16.2.) und „...hätten wir keinen keinen übleren Platz finden können“ (im „Treffer“ des „Spectrum“, auch 16.2.).

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„Weinender Pistorius bei ersten Gerichtstermin“ (16.2.): Die Präposition „bei“ verlangt den dritten Fall. „Kritiker sprechen von Gigantonomie.“ (27.1.) Da werden sie wohl eine Gigantomanie gemeint haben. Die gibt es bei der Ski-WM in Schladming wirklich. Sie wirft aber keinen Schatten auf die einsame Höchstleistung, die „Die Presse“ bei der täglichen WM-Berichterstattung hinlegt.

Die Problematik des Spitzensports klingt bei manchen Artikeln freilich auch an, etwa wenn Sportlerschmerzen völlig emotionslos als Berufsschicksal reportiert werden: „In Sölden 2008 erlitt sie (Marlies Schild) einen Trümmerbruch von Schien- und Wadenbein.“ (14.2.) Heute sei sie schon wieder flott auf der Piste und sage, „das Knie sei stabil, das Problem sei eine Kopfsache“. Vielleicht leidet der ganze Leistungssport an einer Kopfsache.

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Das neue Unwort aus Deutschland lautet „Angstmache“ (am 26., 28. und 31.1., zweimal sogar im Titel). Ist nicht Angstmacherei viel schöner?

Etwas nervös ist die Zeitung, als die niederländische Königin Beatrix ankündigt, abdanken zu wollen. Sie vermeldet das an drei Stellen des Blattes, an einer davon sehr ausführlich, findet aber noch ein viertes Plätzchen und sagt dort, man vermute, dass sie abdanken werde – ihre Rede fände erst nach Redaktionsschluss statt (29.1.). Die Aufregung über gekrönte Häupter setzt sich am nächsten Tag fort. Der Queen, Elizabeth II., die im Juni 2012 das 60. Thronjubiläum gefeiert hat, werden „71 Regierungsjahre“ angedichtet. Egal, regieren tut sie ja sowieso nicht.

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Lange Zeitungsartikel können recht unterschiedlich enden: beruhigend, frustrierend, dramatisch, abrupt, ratlos und auch fad. Im Aufmacher „Entschärftes Pensionskonto kommt 2014“ hat „Die Presse“ eine neue, äußerst interessante Variante gefunden. Nachdem das Pensionskonto in sechs Punkten lexikalisch durch Frage und Antwort erläutert wurde, schließt der Punkt sechs mit der Feststellung: „Die Expertengruppe selbst nennt noch einen anderen Kernpunkt.“ Wir werden diesen Punkt sieben nie erfahren, hoffentlich ist er nicht der wichtigste.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2013)

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