Nataschas Tapferkeit

Die „Treibjagd“ auf das Opfer Natascha Kampusch wird trotz des neuen Expertenberichts unvermindert weitergehen.

Opfer wissen aus eigener Erfahrung, dass es viele Täter gibt. Deswegen werden sie auch nach der Veröffentlichung des Expertenberichts zum Fall Natascha Kampusch nicht damit aufhören, darauf zu pochen, dass es nicht nur den Täter Priklopil gab und dass Täterringe existieren.

Lügen ist das, was Kindern oft unterstellt wird, wenn sie versuchen, schlechte Gefühle in Worte zu fassen und Taten zu beschreiben, für die sie keine Erklärung haben. Wenn nun die FPÖ-Abgeordnete Belakowitsch-Jenewein Natascha Kampusch trotz Expertenberichts weiterhin Lügen unterstellt, befindet sie sich in einer typischen Erwachsenenrolle. Sogar Ermittler Franz Kröll unterschied laut seinem Bruder zwischen „der ganzen Wahrheit“ und Natascha Kampuschs „eigener Wahrheit“.

Das ist heftig. Denn einerseits übernehmen Opfer manchmal Außenansichten und trauen ihren eigenen Erinnerungen nicht. Sie kämpfen in Folge auf verlorenem Posten um eine Einordnung der Tat in ihr normales Leben. Andererseits zeichnet sich Kampusch ja gerade dadurch aus, dass sie zu ihrem Selbst steht. Sie lässt sich nicht als Lügnerin abstempeln, wie viele andere Opfer. So meinte sie nun wieder: „Es war unangenehm, dass die Leute glauben, dass ich die Unwahrheit sage.“ Eine „Grundskepsis“ werde bleiben.

Herren über Leben und Tod

Eine der größten Ungeheuerlichkeiten bei einer Vergewaltigung ist, dass in manchen Fällen das Opfer dem Täter noch dankbar sein muss, dass er es am Leben gelassen hat. Vergewaltigungen und sexueller Missbrauch „funktionieren“ oft nur, weil das Opfer glaubt, seine letzte Stunde habe geschlagen. Der Täter wird eventuell abstreiten, dass er sich zum Herrn über Leben und Tod gemacht hat und sich wie Herr Fritzl auf „Liebe“ und „Schutz“ berufen.

In diesem Zusammenhang zeigte sich die Tapferkeit von Natascha Kampusch: Hielt sie die Herrschaft über Leben und Tod für selbstverständlich, weil sie als Kind die Macht von Erwachsenen akzeptierte? Oder eher deswegen, weil sie ihre Todesangst im Alltag durch kleine, künstlerische Methoden bekämpfte und so trotz aller Widrigkeiten ein Selbst entwickeln konnte, das sich klar abgrenzte von den verschiedenen inneren Figuren des Herrn Priklopil?

Man sollte klar unterscheiden zwischen sexuellem Missbrauch und Todesbedrohungen, die beide andere Konsequenzen haben. Doch viele Opfer wissen genau, dass sich Gewalt oft um das Thema Tod dreht. In Verdrängung ihrer eigenen Angst und in Vertretung ihrer verinnerlichten „Täterfiguren“ gehen nun viele auf Natascha Kampusch los, angetrieben von ihrer eigenen Trauma-Energie.

„Die wollen mich ausmerzen“, sagte Kampusch in einer deutschen TV-Talkshow. Und dass diese, sie obsessiv verfolgenden Menschen erst Ruhe geben würden, wenn sie sich umbringe!

Es darf nicht sein, dass eine junge Frau, die derart unter Druck stand, als Blitzableiter für andere Opfer herhalten muss und vom Tode spricht, wo sie doch Priklopils Attacken überlebte. Man kann gegen Missbrauch, Kinderprostituion und Todesbedrohung sein, ohne große Aufdeckung von „Täterringen“ zu betreiben, einem eingesperrten und völlig abhängigen Mädchen „Sex“ zu unterstellen (wie einige Journalisten) oder gegen andere Opfer vorzugehen.

Kerstin Kellermann ist freie Journalistin in Wien. Unter anderem schreibt sie regelmäßig für die Obdachlosenzeitung „Augustin“.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2013)

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