Wo bleibt Menschenwürde?

Tierschutz darf nicht über der Menschenwürde stehen – schon gar nicht in der österreichischen Verfassung.

Ein Frühlingstag in Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht beim Jahresempfang des Behindertenbeauftragten der deutschen Bundesregierung zu mehr als 400 Behindertenvertretern. Zentrales Thema ist die Menschenwürde als Grundlage für ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben inmitten der Gesellschaft.

Menschenwürde ist nicht nur ein philosophischer Begriff, sondern für Merkel eine Verpflichtung. Aus ihr lassen sich die anderen Menschenrechte, wie das Diskriminierungsverbot, die Freiheits- und die Schutzrechte ableiten.

Auf dem Heimweg bin ich mit meinem Elektrorollstuhl, dem Beatmungsgerät und der Assistentin Linda öffentlich im Bus unterwegs. Der Busfahrer klappt ganz selbstverständlich die Rampe aus. Im „gemütlichen“ Wien ist das oftmals ein Hasardspiel – zwischen Dienst nach Vorschrift und solidarischem Handeln.

Als wir aus dem Bus aussteigen und er wegfährt, zeigt Linda lachend auf die Aufschrift am Heck des Linienbusses: „Die Menschenwürde ist unantastbar!“ Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz. „Ja“, sage ich nachdenklich, „das ist der große Unterschied zwischen Deutschland und Österreich.“

In Deutschland ist die unantastbare Menschenwürde Bestandteil des deutschen Grundrechts und damit der Gesellschaft. Die Menschenwürde steht in Österreich nicht in der Verfassung. Der Tierschutz steht allerdings seit Kurzem als Staatszielbestimmung in der österreichischen Verfassung. Es wäre ein Armutszeugnis für das österreichische Parlament, wenn dem Menschen gegenüber den Tieren nicht einmal der gleiche Wert gegeben wird.

Ethische Fragestellungen

Tierschutz als Würde der Schöpfung ist dabei gewiss ein wichtiges Anliegen. Aber wo bleibt die Menschenwürde?

Immanuel Kant leitet Menschenwürde vor allem von der Autonomie des Menschen ab, seinen Entscheidungen Werthaltungen zugrunde zu legen. Gerade vor dem Hintergrund der den Menschen entwürdigenden Vorgänge während der nationalsozialistischen Herrschaft müssen wir die heutigen ethischen Fragestellungen, welche durch die Weiterentwicklung der Wissenschaften und Technologien gestellt werden, unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde beantworten.

Was bedeutet die neue Möglichkeit des Klonens von Menschen für die Gesellschaft? Ist die Präimplantationsdiagnostik ein Segen für werdende Eltern, oder ist sie ein neues vorgeburtliches Selektionsmittel? Ist die eugenische Indikation eine ethisch vertretbare Tötung? Soll das Recht auf Hospiz und das Verbot der Tötung auf Verlangen verfassungsrechtlich abgesichert werden?

Wir müssen uns – ebenso wie in Deutschland – im Parlament unter Einbeziehung von Menschen mit Behinderung mit diesen ernsthaften ethischen Fragestellungen auseinandersetzen.

Im österreichischen Verfassungskonvent gab es einen Konsens über die Verankerung der unantastbaren Menschenwürde in der Verfassung. Es ist Zeit, dieses gemeinsame Anliegen aller Parteien umzusetzen!

Franz-Joseph Huainigg (geboren 1966) ist Nationalratsabgeordneter und Behindertensprecher der ÖVP.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2013)

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