Der Monsterkrake EU ist endgültig ein Sanierungsfall

Wer den gegenwärtigen Zustand der Europäischen Union ohne Scheuklappen betrachtet, der kann nur in Depression verfallen.

Europa ist ein Sanierungsfall, sagt kein Geringerer als EU-Energiekommissar Günther Oettinger. Sanierungsfall – das ist eigentlich nur ein anderes Wort für Pleiteunternehmen. Und leider hat Oettinger recht. Wer den Zustand der Europäischen Union ohne Scheuklappen betrachtet, kann nur in Depression verfallen: steigende Arbeitslosigkeit (Jugendarbeitslosigkeit in einzelnen Ländern bei knapp 60 Prozent), sinkendes Wirtschaftswachstum, steigende Inflation, Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten.

Und vor allem: Lügen, Lügen, Lügen. Lügen über die Zukunft, Lügen über die Stabilität, Lügen über den Frieden in Europa. „Die Rezession hat weite Teile der Eurozone erfasst, die Perspektiven sind düster“, liest man sogar bei den Gesundbetern.

Verträge zählen nicht mehr

Natürlich hat Oettinger recht – vielleicht anders, als er gemeint hat. Denn im Europa der Union zählen Verträge nicht mehr, macht jeder Staat, was ihm in der Krise gerade passt. Maastricht – vergessen, Schuldenbremse – vergessen, Stabilitätspakt – vergessen.

Man schaue auf Frankreich. François Hollande nimmt den Aufschub (beim Defizitverfahren) gnädig entgegen und desavouiert gleichzeitig die Kommission, die Reformen verlangt. So geht das inzwischen schon seit Jahren: Ein Beschluss jagt den nächsten, No-Bail-out-Klausel, Unabhängigkeit der EZB, „Sixpack“, „Twopack“, Euro-Plus-Pakt – die Fantasie der Apparatschiks ist unerschöpflich, ihr Sinn für erfolgreiches Krisenmanagement offenbar nicht.

Eine sündteure Illusion

„Die Europäische Währungsunion“, liest man in der FAZ, „baute bereits bei ihrer Entstehung auf Rechtsbrüche auf, und sie sichert ihre Existenz ebenfalls nur durch Rechtsverstöße.“

Sanierungsfall EU – wer ein wenig logisch denkt, wird dem wohl oder übel zustimmen. Der Versuch, gegensätzliche Wirtschaftsauffassungen (die ja auch Ausfluss von Mentalitätsunterschieden sind) zu einer einheitlichen Währungsphilosophie zusammenzuschmelzen, ist absurd, konnte nur scheitern.

Nun wird diese Illusion für den Steuerzahler teuer. Der Euro muss gerettet werden, wie Herr Draghi meint – koste es, was es wolle! Und gerettet wird, indem weitere Schulden angehäuft werden, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Lasten die heute noch wehrlose nachfolgende Generation betreffen und der Staat in Abhängigkeit von seinem Kreditgeber gerät, ungeachtet der Tatsache auch, dass Staatsschulden unsozial sind, weil sie letztlich eher die Armen als die Reichen treffen.

Von der Subsidiarität, mit der in Europa immer wieder gesprochen wird, ist nahezu nichts übrig geblieben, das zentralistische Monster fährt weiter seine Krakenarme aus. Aber es gibt in diesem System keine Institution, die das schamlose Schuldenmachen von Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal, Irland, Zypern usw. auch nur eingrenzen könnte. Und die EU-Kommission hat offenbar – ähnlich wie die EZB – kein Interesse daran, Fiskalregelungen durchzusetzen.

Dramatisch gewachsene Lücke

Dies führt letztlich dazu, dass die Kommission keine eingehende Analyse der strukturellen und langfristigen fiskalischen Entwicklung eines Landes liefert. Nur ein Beispiel: Im jüngsten „Sustainability Report“ wird Italien als fiskalisch kerngesundes Land ausgewiesen.

Der britische Premier David Cameron hat das zentrale Problem der EU so beschrieben: „Es klafft zwischen der EU und ihren Bürgern eine Lücke, die in den vergangenen Jahren dramatisch gewachsen ist und die in einem Mangel an demokratischer Verantwortlichkeit und Zustimmung besteht.“

Professor Detlef Kleinert begann seine berufliche Laufbahn beim Bayerischen Fernsehen. Er war unter anderem Südosteuropa-Korrespondent der ARD in Wien.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2013)

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