Wie Nordkoreas Führung ihre „Macht der Schwäche“ einsetzt

Gastkommentar. Pjöngjangs Atomwaffenprogramm stürzte China in ein Dilemma. Die Zeichen deuten aber auf eine Veränderung hin.

Als US-Präsident Barack Obama und der chinesische Präsident Xi Jinping im vergangenen Monat ihr „hemdsärmeliges“ Gipfeltreffen abhielten, war Nordkorea eines der wichtigsten Themen. Das Thema selbst war nicht neu, aber der Ton.

Vor mehr als zwei Jahrzehnten hat die Internationale Atomenergiebehörde die Verletzung des Sicherungsübereinkommens seitens Nordkoreas festgestellt. Nachdem der Norden die darauf folgende Rahmenvereinbarung, die von der Clinton-Administration 2003 ausgehandelt worden war, missachtete, verwies er die Inspektoren der Behörde des Landes, zog sich aus dem Atomwaffensperrvertrag zurück und hat seitdem drei Atomsprengköpfe gezündet und verschiedene Raketentests durchgeführt.

In diesen zwei Jahrzehnten haben amerikanische und chinesische Beamte das Verhalten Nordkoreas sowohl hinter verschlossenen Türen als auch öffentlich erörtert. Die Chinesen haben oft darauf hingewiesen, dass sie nicht wünschten, dass Nordkorea Atomwaffen entwickle, wiesen aber gleichzeitig darauf hin, dass sie nur geringen Einfluss auf das Regime hätten, obwohl China der wichtigste Lieferant Nordkoreas für Lebensmittel und Treibstoff ist. Das Ergebnis war ein Austausch, bei dem China und die USA wenig mehr erreichten als eine Einigung auf das gemeinsame Ziel der Entnuklearisierung.

Atomwaffenfreie Halbinsel

Der chinesische Wunsch nach einer atomwaffenfreien koreanischen Halbinsel ist zwar aufrichtig, aber das Thema Atomwaffen hat keine Priorität für Peking. China war auch bemüht, ein Zusammenbrechen des nordkoreanischen Regimes und das dadurch zu erwartende Chaos an der gemeinsamen Grenze zu verhindern – und dabei geht es nicht nur um Flüchtlingsströme, sondern auch um die Möglichkeit, dass südkoreanische oder US-Truppen im Norden einmarschieren könnten.

Hin- und hergerissen zwischen seinen beiden Zielen hat China dem Erhalt der Kim-Dynastie eine höhere Priorität eingeräumt. Diese Wahl hat scheinbar ein Paradox ausgelöst: Nordkorea hat überraschend viel Einfluss auf China gewonnen.

Nordkorea verfügt über das, was ich die „Macht der Schwäche“ nenne. In bestimmten Verhandlungssituationen können Schwäche und das Risiko des Zusammenbruchs eine Quelle der Macht sein. Ein Beispiel aus dem Alltag wären Schulden bei einer Bank. Wenn Sie einer Bank 1000Dollar schulden, hat diese Bank Macht über Sie; wenn Sie der Bank allerdings eine Milliarde Dollar schulden, dann haben Sie erhebliche Verhandlungsmacht über die Bank. China ist in diesem Sinne Nordkoreas gefährdeter Banker.

Deswegen hat China versucht, Nordkorea davon zu überzeugen, seinem marktorientierten Beispiel zu folgen. Aber da das Kim-Regime Angst davor hat, dass eine wirtschaftliche Liberalisierung letztlich auch Forderungen nach größerer politischer Freiheit nach sich ziehen würde, ist der Einfluss Chinas auf das Regime nur begrenzt. Ein chinesischer Beamter sagte mir einmal in einem unbedachten Moment: „Nordkorea hat unsere Außenpolitik in Geiselhaft genommen.“

Mit dieser schwachen Hand hat Nordkorea seine Macht unverfroren ausgebaut. Die Führung im Norden weiß, dass die militärische Macht Südkoreas und der USA in einem umfassenden militärischen Konflikt überlegen sein würde. Aber mit 15.000 Artillerie-Geschützrohren in der entmilitarisierten Zone 48 Kilometer von der Hauptstadt Südkoreas, Seoul, entfernt weiß sie auch, dass sie die Wirtschaft des Südens verwüsten könnte, während der Norden im Vergleich weniger zu verlieren hat.

Kriegerische Rhetorik

Nordkorea stellt schon lange zur Schau, dass es gewillt ist, Risken einzugehen. 2010 provozierte es eine Krise, indem es ein südkoreanisches Kriegsschiff zum Kentern brachte und eine südkoreanische Insel bombardierte. Im Frühjahr dieses Jahres führte es einen Atomtest und eine Reihe von Raketentests durch, begleitet von einem Schwall kriegerischer Rhetorik.

Es sieht so aus, als würde China seine Geduld langsam verlieren. Es hat weniger Vertrauen in den unerfahrenen neuen Herrscher Kim Jong-un als in seinen Vater, Kim Jong-il. Die chinesische Führung sieht auch langsam das Risiko, das Nordkorea für China bedeutet.

Mit weiteren Atomtests könnte die Nachfrage nach Atomwaffen in Südkorea und Japan steigen. Wenn auf die scharfe Rhetorik des Kim-Regimes vom Anfang des Jahres Provokationen folgen wie 2010, könnte Südkorea zudem mit einem Angriff reagieren, was China in den Konflikt hineinziehen könnte.

Die Zeichen scheinen auf eine Veränderung hinzudeuten. Nach dem „offenen“ Meinungsaustausch über Nordkorea zwischen Xi und Obama, richtete Xi einen Gipfel mit der südkoreanischen Präsidentin Park Geun-hye aus, ohne zuerst seinen offiziellen nordkoreanischen Verbündeten zu treffen. Stattdessen sind zwei hochrangige nordkoreanische Gesandte nacheinander in Peking vorstellig geworden und mussten sich Vorwürfe bezüglich des Verhaltens des Nordens anhören.

Xi und Park dagegen betonten in einer gemeinsamen Erklärung, wie wichtig es sei, die Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, die Nordkorea mit Sanktionen belegen, sowie eine multilaterale Vereinbarung von 2005 einzuhalten, die den Norden verpflichtet, sein Atomprogramm zugunsten wirtschaftlicher und diplomatischer Fortschritte aufzugeben. Beide Politiker drangen auf eine Wiederaufnahme der Sechs-Parteien-Gespräche über Entnuklearisierung, die 2009 unterbrochen wurden.

Was jetzt folgen wird, ist ungewiss. Nordkorea hat seine Rhetorik und sein Verhalten gemäßigt, aber das Kim-Regime hat nicht zu erkennen gegeben, dass es das Atomwaffenprogramm aufgeben will, welches es für seine Sicherheit und sein Ansehen als unerlässlich erachtet. Langfristig könnten ein wirtschaftlicher und ein sozialer Wandel helfen, die Situation zu verbessern. Chinas Dilemma, dass das Kim-Regime kollabieren könnte, wenn von China zu viel Druck aufgebaut wird, bleibt bestehen.

Ein Schritt aus dem Dilemma

Angesichts dieser Aussichten könnten die USA und Südkorea Schritte unternehmen, um China zu vergewissern, dass sie eine solche Situation nicht ausnützen und ihre Truppen nicht an die chinesische Grenze schicken würden. In der Vergangenheit, wenn die USA diskrete Gespräche vorschlugen, um zu besprechen, wie man vorgehen könne, falls das Regime kollabierte, wollte China Nordkorea nicht vor den Kopf stoßen und schwächen.

Aber vielleicht wäre ein solches Vorgehen für China ja der nächste Schritt auf dem Weg aus dem Dilemma.

Aus dem Englischen von Eva Göllner. Copyright: Project Syndicate, 2013. www.project-syndicate.org

Zur Person


E-Mails an: debatte@diepresse.comJoseph S. Nye ist Professor an der Harvard-Universität. Er ist Autor mehrerer Bücher, etwa „Presidential Leadership and the Creation of the American Era“. [privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.