Das Schächten und die Ablehnung alles Religiösen

Glaube und Tierquälerei. Das Schlachten von Tieren wie die Abscheu davor gehören zur Conditio humana. Aber wehe, wenn auch noch Religion mitspielt.

Was muss das für eine Religion sein, die Bräuche hat wie das Schächten von Tieren!“, sagte ein Freund voll Empörung zu mir. „Wie kann man eine solche Tierquälerei als Teil seines Glaubens praktizieren? Das ist mir völlig unverständlich. Was sagst du als religiöser Mensch dazu?“ Anlass für das Gespräch war der Beschluss des polnischen Parlaments, in einem Tierschutzgesetz keine Ausnahme für das Schächten zu gewähren, das eine religiöse Vorschrift bei Juden und Moslems ist.

Ich zögerte zuerst mit einer Antwort und versuchte es dann so: Zunächst einmal halte ich mich mit einem Verdammungsurteil über einen religiösen Brauch zurück, weil ich grundsätzlich jeder Religion mit Respekt begegne, auch wenn ich ihre Glaubensinhalte nicht teile und mir manche ihrer Bräuche unverständlich sind oder ich sie als abstoßend empfinde – was beim Schächten durch Juden und Moslems für mich übrigens nicht der Fall ist.

Das Konzept ritueller Reinheit

Es ist jedenfalls nicht abstoßender als das Schlachten von Tieren überhaupt. Ob die Methoden bei „normalen“ Schlachtungen sehr zimperlich sind, kann man ja auch bezweifeln. Beides gehört gewissermaßen zur Conditio humana: das Schlachten von Tieren wie die Abscheu davor.

Das überzeugte meinen Freund nicht. Ich versuchte es dann mit religionswissenschaftlichen Kenntnissen: Urtümliche Religionen haben es sehr häufig mit Reinheitsvorschriften zu tun. Das mag anfangs hygienische Gründe gehabt haben, wurde aber zunehmend zum Gebot kultischer, ritueller Reinheit. Im Judentum gibt es bekanntlich die Vorschrift, Milchprodukte und Fleisch nicht im selben Gefäß zuzubereiten, woraus sich sogar eine Trennung verschiedener Kochbereiche ergeben hat.

Auch im Hinduismus spielt die rituelle Reinheit eine wichtige Rolle. Ein Brahmane isst nur Speisen, die von seinesgleichen zubereitet worden sind, und setzt sich mit niemandem an den Tisch, der nicht auch ein Brahmane ist. Ein Dorfbrunnen irgendwo in Indien etwa, der von einem „Unberührbaren“ benützt und dadurch verunreinigt worden ist, muss in einem komplizierten mehrtägigen Ritual durch einen Brahmanen wieder rein gemacht werden.

Auch wenn ich solche Auffassungen nicht teile, kann es mir nicht gleichgültig sein, dass sie Millionen Menschen wertvoll sind und sie ihr Leben danach richten. Das Christentum kennt bekanntlich keinerlei solcher Vorschriften. Jesus hat dem Konzept ritueller Reinheit vielmehr eine strikte Absage erteilt: Nicht, was der Mensch zu sich nimmt, macht ihn unrein, sondern, was aus ihm herauskommt: böse Worte, schlechte Taten, üble Gesinnung.

Hans Kelsen, der Hauptverfasser der österreichischen Bundesverfassung, spricht davon, dass die Toleranz es gebiete, die politischen oder religiösen Anschauungen anderer „wohlwollend zu verstehen“, auch wenn man sie nicht teilt, „ja gerade, weil man sie nicht teilt“.

Respektvoller Umgang

Wie man Religionen wohlwollend verstehen und mit ihnen respektvoll umgehen kann, hat exemplarisch die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die nicht christlichen Religionen, „Nostra Aetate“, gezeigt.

„Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen im Tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“

Und weiter: „Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selbst für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet.“

Geht es um Kompensation?

Beispielhaft sei die Passage aus „Nostra Aetate“ über den Islam zitiert: „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche die Muslime, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat. Sie mühen sich, auch seinen verborgenen Ratschlüssen sich mit ganzer Seele zu unterwerfen, so wie Abraham sich Gott unterworfen hat, auf den der islamische Glaube sich gern beruft [...]. Überdies erwarten sie den Tag des Gerichtes, an dem Gott alle Menschen auferweckt und ihnen vergilt. Deshalb legen sie Wert auf sittliche Lebenshaltung und verehren Gott besonders durch Gebet, Almosen und Fasten.“

Solche Worte werden wohlgemerkt von Vertretern einer Glaubensgemeinschaft verwendet, die unter dem Islam weltweit wie keine andere zu leiden hat.

Zurück zum Gespräch mit meinem Freund: „Woher,“ so fragte ich ihn, „glaubst du, kommt ausgerechnet in Polen, einem notorischen Land der Fleischesser, plötzlich die Sensibilität gegenüber angeblichem oder wirklichem Tierleid? Fällt dir nicht die augenscheinliche Diskrepanz zwischen dem neu erwachten hohen ethischen Bewusstsein in Bezug auf Tiere und dem nachlassenden in Bezug auf den Menschen – nicht nur in Polen – auf? Das Unrechtsbewusstsein gegenüber einer Abtreibung ist sehr gering geworden, die sittlichen Sperren gegen die Euthanasie werden immer schwächer. Ist da vielleicht eine Kompensation im Spiel?“

In der politischen Auseinandersetzung in Polen wurde das Argument verwendet, das Schächten sei der „polnischen Kultur fremd“. Eine solche Diktion erinnert an den Sommer 2012. „Das Judentum ist eine Religion, die nicht nach Deutschland gehört“, konnte man damals nach dem Gerichtsurteil, das die Beschneidung jüdischer und muslimischer Buben als unzulässige Körperverletzung qualifizierte, im Netz lesen.

Juden, Moslems als Zielscheibe

Die Religionsfreiheit der Eltern gilt vielen nicht mehr als hinreichender Grund, eine angebliche Körperverletzung zu rechtfertigen. Die Argumentation – falls überhaupt Argumente gebraucht wurden und nicht nur dumpfe antiislamische und antijüdische Agitation betrieben wurde – lief letztendlich darauf hinaus, den Eltern eine Art Neutralitätsverpflichtung gegenüber ihren Kindern aufzuerlegen und ihnen zu verbieten, ihren Kindern ihren religiösen Glauben weiterzugeben und an ihnen dessen Rituale zu vollziehen.

Es scheint aber, dass es bei der Ablehnung des Schächtens gar nicht nur um diese Praxis bei Juden und Moslems geht, sondern um die Religion überhaupt. Erscheinungsformen des Religiösen stoßen zunehmend auf Unverständnis, auch die „angestammten“ christlichen. Da man sich im katholischen Polen an das Christentum aber nicht herantraut, sind zunächst einmal Juden und Moslems die Zielscheibe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.08.2013)

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