Russland hat noch keine Idee, in welche Richtung es gehen soll

Nur ständig des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg zu gedenken - das ist zu wenig für eine neue nationale Identität Russlands!

Während der Diskussion in der vorjährigen Vollversammlung des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik sprachen sich einige russische Teilnehmer dafür aus, dass sich die Organisation intensiver mit der Bestimmung der russischen Identität befassen sollte. Denn die Frage, wer wir sind und mit welcher Geschichte unseres Landes wir uns identifizieren, ist und bleibt aktuell. Genauso aktuell wie die Frage über die Verbindung mit unserer eigenen Kultur.

Natürlich hängt das Hauptproblem der heutigen russischen Identität beziehungsweise ihrer mangelhaften Ausprägung mit der tragischen russischen Geschichte im 20. Jahrhundert zusammen. In diesem Jahrhundert wurde am russischen Volk ein schreckliches Experiment durchgeführt, gegen das sich freilich die meisten Menschen nicht zur Wehr setzten.

In diesem Jahrhundert wurden alle Besten und alles Beste zerstört. Die Sowjetunion schuf dann zwar ihre eigene Identität, die durchaus auch positive Züge hatte. Aber die Sowjetunion hat sich 1991 aufgelöst. Der Überlebenskampf nach ihrem Kollaps bedeutete keine kreative Suche nach einer neuen Ideologie der Nation. Die russische Gesellschaft beziehungsweise das Volk selbst sollten eine neue Identität quasi zur Welt bringen.

Mangel an kreativen Ideen

Das hat nicht geklappt. Die sowjetische Identität konnten wir letztendlich abschütteln. Aber eine neue nationale Idee außer dem Gedenken an den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wurde nicht geschaffen. Weder die Gesellschaft noch die Behörden noch die intellektuelle Elite habe eine Idee gefunden, die das Land vereint und voranbringen würde.

Der Mangel an Ideen ist vorteilhaft für jenen Teil des Establishments, der es vorzieht, sich selbst zu bereichern, der mit der Zukunft des Landes aber nichts verbindet und der keinen Gedanken daran verschwendet. Einige Debatten werden zwar geführt, aber sie laufen in verschiedene Richtungen, und einen Dialog unter diesen verschiedenen Richtungen gibt es nicht.

Die Anhänger der slawischen Einheit glauben an eine besondere russische Seele, glauben an den Kollektivismus. Sie betrachten den Westen als Feind und sehen Russland als Erbe des Byzantinischen Reiches. Außenpolitisch orientieren sie sich an den zahlreichen Widersachern des Westens, unter anderem an der islamisch-arabischen Welt. Anfang der 2000er-Jahre sahen sie auch die Volksrepublik China als Vorbild. Jetzt aber fürchten sie die Chinesen.

Die Slawophilen können jederzeit von Adepten der „Russischen Doktrin“ ersetzt werden. Sie berufen sich auf traditionelle orthodoxe Werte, haben diese Ideologie etwas erneuert und legen den Schwerpunkt auf Erfolg im irdischen Leben. Sie neigen zu einem gemäßigten Nationalismus und lehnen den „besonderen Kollektivismus“ der Russen ab. Ultranationalismus und Xenophobie nehmen zu. Sie sind zwar kaum vertreten in den traditionellen Intellektuellenkreisen, aber ziemlich häufig unter Bloggern. Das Motto „Russland den Russen!“ bedeutet nicht nur eine Abkehr vom Westen, sondern von der gesamten Außenwelt. Auch antisemitische Stimmungen sind nicht zu übersehen.

Der Neoimperialismus – sprich: eine neosowjetische Richtung – versucht ebenfalls eine Wiederauferstehung. Seine wichtigste These besteht darin, dass Russland ohne ein Reich niemals existieren könne. Das Land sei von Feinden umzingelt; ein Krieg sei nicht zu vermeiden, auf den man sich auch vorbereiten sollte.

Alle Kräfte müssten deshalb auf die nationale Verteidigung, die Entwicklung der Streitkräfte und der Rüstungsindustrie gerichtet werden. Das gesamte private Großeigentum müsse wieder verstaatlicht werden und ein Rückgriff auf die einstige militärische und wirtschaftliche Mobilisierung der Gesellschaft müsse stattfinden.

Immer populärer werden in Russland auch „neolinke“ Ideen. Die Gründe dafür sind offensichtlich: die Illegitimität des heutigen Großeigentums aufgrund der einstigen unrechtmäßigen Privatisierung, die Ungerechtigkeit des sozialen und politischen Systems, das Fehlen sogenannter sozialer „Fahrstühle“ für den aktiven Teil der Bevölkerung. Es mangelt auch an einer klaren und für die Bevölkerungsmehrheit akzeptablen Entwicklungsstrategie für das Land.

Die „neolinke“ Konzeption hat sich noch nicht als selbstständige Strömung etabliert und befindet sich noch im Schatten der „alten Linken“, der Kommunisten. Sie wird großenteils unterdrückt, hat aber offenbar ganz gute Perspektiven. Drei Viertel der russischen Bevölkerung sind für die Rückverstaatlichung des privaten Großeigentums. Was aber privates Großeigentum ist, kann eigentlich kaum jemand definieren.

Keine echten Alternativen

Der liberale prowestliche Flügel präsentiert seinen Traum von der Zukunft Russlands und kritisiert die derzeit Regierenden für ihren autoritären Führungsstil. Die Prowestler nehmen allerdings keine Rücksicht auf den realen Zustand des Landes, orientieren sich an einem unerreichbaren Ideal und an der „fortschrittlichen“ Minderheit der Bevölkerung. Europa sehen sie als Vorbild.

Die konservative Mehrheit der „kreativen“ Opposition forderte nur allgemein Demokratie und lehnt die Behörden und deren Initiativen völlig ab. Doch diese Kräfte bieten keine politische Alternative, deshalb hatten sie bisher auch keinen Erfolg.

Der totale Pessimismus

Was die Kräfte an der Machtspitze angeht, so schlugen sie bisher weder eine Entwicklungsstrategie noch ein verständliches ideologisches Projekt vor. Ihre wichtigste Idee, die aber nie offiziell formuliert wurde, besteht in der Aufrechterhaltung der Spaltung zwischen Establishment und Gesellschaft, um mit propagandistischen Mitteln von den tatsächlich akuten Problemen ablenken zu können. Und für alle diese Denkweisen ist der totale Pessimismus typisch.

Somit wäre eine nationale Idee nötig. Die Menschen müssen eine geistige Verbindung zwischen sich und ihrem Land finden. Solange wir nicht verstehen, wer wir sind und in welche Richtung wir gehen wollen, werden unsere Positionen in der Welt bestenfalls schwächer. Im schlimmsten Fall – und dieser Weg sieht zunehmend realistischer aus – kommen die späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre wieder nach Russland zurück.

Ein Antrieb bei der Suche könnten die Debatten bei der zehnten Jubiläumssitzung des Klubs Waldai Mitte September sein, die von RIA Novosti und dem Rat für Außen- und Verteidigungspolitik organisiert wird.

An der Diskussion werden überwiegend russische Experten teilnehmen. Ihre ausländischen Kollegen werden die Realitätsnähe und das Niveau der russischen Debatte beurteilen sowie über ihre eigenen Erfahrungen und Probleme sprechen. Denn früher oder später erleben fast alle Völker der Welt eine Identitätskrise, sowohl die Chinesen wie die Europäer – ja sogar die Amerikaner.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor

Sergej Karaganow (* 1952) ist ein international bekannter russischer Politikwissenschaftler. Er wirkte in außenpolitischen Beraterstäben der Präsidenten Boris Jelzin und Wladimir Putin mit, ist Vorsitzender des Präsidiums des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik (SWOP) und Dekan der Fakultät für Internationale Wirtschaft und Politik an der Higher School of Economics in Moskau. [RIA NOVOSTI]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2013)

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