Es wäre höchste Zeit, dass das Assad-Regime und die Opposition die Blockade internationaler Hilfe für die Bevölkerung beenden.
Die derzeitigen Debatten über Syrien drehen sich hauptsächlich um den Einsatz chemischer Waffen in Al Ghouta im Osten von Damaskus. Während diskutiert wird, sind die Bewohner dieser Gegend weiter Opfer täglicher Bombenangriffe sowie einer Blockade, die sie von dringend benötigten Lebensmitteln und Medikamenten abschneidet. Doch humanitäre Hilfe steht nicht auf der Agenda der internationalen Verhandlungen.
Es gibt einen auffälligen Kontrast in der Syrien-Krise: zwischen den intensiven diplomatischen Aktivitäten auf der einen, dem Fehlen von Initiativen, um die Nothilfe für die syrische Bevölkerung aufzustocken, auf der anderen Seite. Der Gebrauch von Massenvernichtungswaffen wurde weltweit und quer durch alle Lager verurteilt. Aber der Tod von zehntausenden Zivilisten durch andere Ursachen und die Weigerung, lebensrettende humanitäre Hilfe für Millionen Menschen zuzulassen, stößt auf Schweigen.
In den vergangenen zwei Jahren ist der Großteil der internationalen humanitären Hilfe, die von den Vereinten Nationen und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz geleistet wurde, über Damaskus nach Syrien geflossen. Dann wurde sie nach den Launen der Regierung verteilt.
Dieselbe Regierung verbietet es, Menschen medizinische Nothilfe zukommen zu lassen, die in den von der Opposition kontrollierten Gebieten leben. In Gebieten also, die intensiv bombardiert werden. Dabei werden medizinische Einrichtungen ebenso gezielt angegriffen wie Menschen, die der Bevölkerung helfen wollen – seien es Bäcker oder Mediziner.
Bomben auf ein Feldspital
Erst vor wenigen Tagen wurde ein Feldspital in al-Bab in Nordsyrien von der syrischen Luftwaffe bombardiert; neun Patienten und zwei medizinische Helfer starben. Aber auch manche Mitglieder der bewaffneten Opposition sind in kriminelle Handlungen verwickelt: gegen Syrer, Helfer, Journalisten und Kriegsgefangene.
Aufruf an alle Konfliktparteien
Auch wenn andere Oppositionsvertreter es nicht wahrhaben wollen: Es gibt diesen Missbrauch. Er verhindert die Hilfe dort, wo sie dringend benötigt würde. Deshalb müssen alle bewaffneten Gruppen sich dazu bekennen, die Sicherheit für Zivilisten, Journalisten und humanitäre Helfer zu verbessern.
Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières – MSF) ruft Staaten und internationale Organisationen dazu auf, humanitäre Hilfe für das syrische Volk zur Priorität zu machen. Als erster Schritt muss die humanitäre Blockade gegen Syrer, die in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben, aufgehoben werden; zuallererst in den besonders betroffenen östlichen Vororten von Damaskus.
Es müssen alle diplomatischen Mittel eingesetzt werden, damit UN-Agenturen, das IKRK und Nichtregierungsorganisationen in der Lage sind, dem syrischen Volk Nothilfe zu leisten – sei es von Damaskus oder von Nachbarländern aus. Auch müssen die Alliierten der beiden Seiten des Konflikts Druck auf ihre jeweiligen Partner ausüben, damit diese die Sicherheit von Zivilisten, Journalisten und humanitären Helfern gewährleisten.
Als humanitäre Helfer ist es nicht unsere Aufgabe, eine Position hinsichtlich einer möglichen Vergeltung für den Einsatz chemischer Waffen oder einer bewaffneten Intervention zu beziehen. Es ist aber sehr wohl unsere Pflicht, auf die humanitäre Situation aufmerksam zu machen – vor allem, wenn die Hilfe derart eindeutig nicht jene Menschen erreicht, die sie am dringendsten benötigen würden.
Dr. Mégo Terzian (* im Libanon) ist seit Juni Präsident von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) in Frankreich.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.09.2013)