Letzter Literaturpapst? Nein, höchstens ein Literaturkardinal

Gastkommentar. Marcel Reich-Ranicki war nicht unfehlbar, oft lag er mit seiner Kritik auch völlig daneben. Aber wer wird seinen Platz einnehmen?

Zum Tod Marcel Reich-Ranickis kann einem viel einfallen. Einer meiner ersten Gedanken war, dass es auf dieser Welt doch – zumindest eine ausgleichende – Gerechtigkeit gibt. Die „Deutschen“ – jeder weiß, was und wen ich meine – haben gerade in Reich-Ranickis Heimat, namentlich in Warschau, und hier im Ghetto, gewütet – und auch das ist ein geradezu beschönigender Terminus. Handke meint in der „Lehre der Sainte-Victoire“, „dass es nie etwas Böseres gegeben hatte“.

Der Hauch einer ausgleichenden Gerechtigkeit bestand darin, dass dieser – seiner Familie beraubte – polnische Jude für Jahrzehnte der Herr über die deutschsprachige, um nicht zu sagen deutsche Literatur war und er den rechten Daumen gleichsam nach Belieben gehoben oder gesenkt hat, wobei seinen „Urteilen“ etwas Letztinstanzliches anhaftete.

MRR war nicht unfehlbar

Aus diesem Letztinstanzlichen hat sich in den 1960er-Jahren für ihn ein Ehrentitel beziehungsweise ein Schimpfwort – je nachdem – entwickelt, er war gemeinhin der Literaturpapst. Mir ist keine Enzyklika bekannt, mit der er dieser Erhebung in den literarischen Klerikalstand widersprochen hätte.

Dennoch bin ich der Meinung, dass er nie das Oberhaupt einer Kirche war. MRR war – bei aller Freundlichkeit – ein Literaturkardinal und bestimmt nicht mehr, zumal er – bei Gott – nicht unfehlbar war. Mit seinen Urteilen lag er, wie all die anderen Damen und Herren – mögen sie nun Ulrich Greiner, Volker Hage, Harald Klauhs oder Iris Radisch heißen – einmal richtig, ein anderes Mal völlig daneben.

MRR war kein Richter, zu dem er sich gern aufgespielt hat, weil die Zeitungen, die seine – selbstverständlich amüsanten, köstlichen, gut lesbaren – Rezensionen veröffentlicht haben, keine ordentlichen Gerichte waren und er keinen literarischen Eid geschworen hat. Er war auch kein Staatsanwalt oder Verteidiger der Literatur, wie er selbst einmal gemeint hat. Er war ein Könner in seinem Fach, ein Liebhaber der Literatur und ein höchst subjektiver Geist mit einem unstillbaren Hunger nach vermeintlicher Macht.

Fehden mit Grass, Handke, Walser

All das mag einem imponiert haben, selten einmal auch mir. Abscheulich waren allerdings Marcel Reich-Ranickis literarische Feindschaften, wobei die exemplarischsten jene mit Günter Grass, Peter Handke und Martin Walser waren.

MRR und Handke haben ihren wechselseitigen Hass schriftlich dokumentiert. MRR wiederholt in Rezensionen, Handke auf recht hässliche Art in der oben mit Absicht zitierten „Lehre der Sainte-Victoire“, einem Büchlein aus dem Jahr 1980, in dem es über eine „Dogge von Puyloubier“ heißt: „... dann wussten wir voneinander, wer wir waren, und konnten nur noch auf ewig Todfeinde sein; und zugleich erkannte ich, dass das Tier schon seit Langem wahnsinnig war.“

Später hat „Der Spiegel“ das Cover seiner Ausgabe 40/1993 tatsächlich unter dem Titel „Der Verreißer“ mit Reich-Ranickis – auf einen Doggenkörper applizierten – Kopf geschmückt.

Wer wird seinen Platz einnehmen?

Eigentlich ist es bedauerlich, dass der große MRR nie zur Größe gefunden hat, seinen Rechtsspruch über Peter Handke zu revidieren. Handke könnte gerade jetzt die richtigen Worte finden.

Ich bin neugierig, wer Reich-Ranickis Platz, der mit Sicherheit längere Zeit vakant bleibt, einnehmen wird. Vielleicht werden ja die Österreicher sagen können: Wir sind Papst – äh: Kardinal!

Hon.-Prof. Dr. Janko Ferk ist Jurist, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler in Klagenfurt/Celovec. Zuletzt erschien seine Essaysammlung „Luft aus der Handtasche“ (LIT Verlag, Wien-Berlin).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2013)

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