Zeit auch für Österreich, mehr Demokratie zu wagen

Im Vergleich zu Deutschland hinken wir demokratiepolitisch in vielen Dingen hinterher. Doch der Gegenwind wird rauer.

Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Mit diesen programmatischen Worten eröffnete der legendäre Sozialdemokrat Willy Brandt am 28. Oktober 1969, heute vor 44 Jahren, als Bundeskanzler im Deutschen Bundestag eine neue sozial-liberale Regierungsperiode. Wie wir heute wissen, geschah dies fast genau in der Mitte des 41-jährigen Bestandes des geteilten Deutschland.

Das waren mutige, notwendige und richtungsweisende Worte für ein Staatsgebilde in schwieriger Situation: geteilt, auf dem Wege zu innerem und äußerem Frieden, nach echter Versöhnung suchend.

Brandt detaillierte seinen Anspruch nach mehr Demokratie, indem er eine Öffnung der Arbeitsweise der Politik anmahnte, auf das jeder Bürger an Reform von Staat und Gesellschaft mitwirken kann. Und er erinnerte daran, dass Politiker Gewählte und keine Erwählten sind. Deutschland hat seine Möglichkeiten genutzt. Die Geschichte von Wiedervereinigung und Wiedererstarkung im Rahmen der neuen Berliner Republik haben eine geachtete Nation geschaffen.

Auch die politische Kultur nahm einen anspruchsvollen Weg. Wir sehen heute jedenfalls ein beachtliches Auseinanderklaffen zwischen Deutschland und Österreich in der Gestaltung von politischen Standards, bei der Konfliktbewältigung bis hin zum politischen Diskurs in der Öffentlichkeit.

Markante Unterschiede

Aktuelle Demoskopie-Daten zeigen eine große Disparität zwischen Deutschland und Österreich bezüglich der Akzeptanz der Regierungsarbeit durch die Bevölkerung. Mitte August 2013, also rund 40 Tage vor den Parlamentswahlen in beiden Ländern, stellten 61 Prozent der Deutschen ihrer Regierung ein gutes Zeugnis aus, aber nur 25 Prozent der Österreicher.

Auch das Wahlergebnis differiert zwischen Deutschland und Österreich strukturell – insbesondere, was die Funktionstüchtigkeit und Attraktivität der christdemokratischen Volksparteien anbetrifft, aber auch bezüglich des „Ausfransens“ des Elektorates in Richtung aktionistischer und spontanistischer Wahlplattformen.

Wagen wir in Österreich also zu viel oder zu wenig Demokratie?

Die Unterschiede der Attraktivität der politischen Systeme beider Länder nur auf die Ebene der professionellen Qualität der Akteure zu reduzieren, wäre eine unzulässige Verkürzung. Natürlich kann ein 80-Millionen-Volk seine Eliten aus einer anderen statistischen Grundgesamtheit rekrutieren als das Acht-Millionen-Land Österreich. Aber hat Österreich vielleicht in den strukturellen Bedingtheiten der Politik etwas versäumt?

Heute wagt der Österreicher offenkundig innovatives Wahlverhalten. Er kostet damit die Möglichkeiten der Demokratie aus, auch wenn er das mitunter schnell wieder bereut, wenn er einem politischen Strohfeuer aufgesessen ist. Trotzdem: Österreich wagt zu wenig Demokratie. Auch 97 Jahre nach dem Tod von Kaiser Franz Joseph ist Österreich ein sehr Obrigkeits-orientierter Staat geblieben. Verfassungsrechtler sehen im Parlament sogar den „Gesetznehmer“ und nicht den „Gesetzgeber“ – wegen der völligen Orientierung des Nationalrats hin auf die Regierung.

Die republikanischen Nachfolger des Kaisers in den politischen Ämtern und Parteiorganisationen sind peinlichst darauf bedacht, ihre Einflussbereiche fein säuberlich von den Wählern beziehungsweise Parteimitgliedern zu separieren, um wenigstens im eigenen Bereich ein bisschen Kaiser zu sein.

Es herrscht eine strukturelle Scheu vor dem souveränen, artikulationsfähigen und entscheidungsfreudigen Bürger, den man höchstens zu Wahlzeiten befragen will, wofür man ihn freilich mit allen Mitteln moderner Kommunikationspsychologie vorzubereiten genötigt sieht.

Vordemokratisches Denken

Politiker als die vom Souverän bezahlten und beauftragten Hände, die für den Bürger handeln, treten nicht mit dem Souverän in Verhandlungen, wer was machen darf. Hände folgen den Entscheidungen des Individuums – so wie der Karren dem Ochsen folgt.

Politikerstellungnahmen, „das ist Aufgabe des Parteivorstandes, dafür sind wir ja da – und nicht die Mitglieder“, zeugen von einem sehr vordemokratischen Politikverständnis. Österreich als Einheit in Vielfalt macht die unterschiedlichsten Demokratie-Konzepte dann sichtbar, wenn Fragen von Partei-Urabstimmung, Partei-Befragung und direkter Demokratie insgesamt angesprochen werden.

Es kann nicht überraschen, dass gerade ein burgenländischer Parteimanager von innerparteilicher Demokratie wenig hält, dafür aber von der Lösungsperfektion von Parteipräsidien überzeugt ist. Gerade das politische Klima des Burgenlandes war noch bis in die 1970er Jahre ein perfekter Verschnitt von ungarischer Herrenmentalität und sozialistischer Alleinstellung, wo selbst die Konsumation des „jus prima noctis“ durch die Landesherren noch im Bereich des Denkmöglichen war.

Wer in einer solchen Zeit geprägt wurde, für den können Wähler bestenfalls „zu beeinflussende Stellgrößen“ sein, welche die Arbeit der Spitzengremien anlässlich von Wahlen regelmäßig stören.

Österreichische Konfliktscheu

Anders im Westen Österreichs, wo der alemannisch-helvetisch beeinflusste Freiheitsanspruch der Vorarlberger diese auch vorpreschen lässt. Es waren Vorarlberger SPÖ-Funktionäre, die sich innerparteilich sofort kritisch und ablehnend zu der von ihrer Parteispitze geplanten Fortführung der bisherigen Politik zu Wort meldeten.

Österreich hatte eine Konzentrationsregierung in Gestalt der Großen Koalition über Jahrzehnte, und die Konfliktscheu des Österreichers hat Kontroversen immer nur beschränkt stattfinden lassen. Heute, wo sich viele sozialwissenschaftliche Disziplinen dem Trend zur Inklusion stellen und auch öffentliche Dienstleistungsbereiche wie Medizin, Sozialverwaltung und Schulwesen nach Gedanken der Inklusion neu gestaltet werden, stützt sich die Regierung nur noch auf knapp mehr als 50 Prozent und manche spielen auf „Ausgrenzung“. Das kann nicht gut gehen.

Inklusion erkennt Anderssein und selbst extreme Unterschiedlichkeit als die Normalität an. Inklusion auch in der Politik zu praktizieren, ist vom Souverän der Politik zur Aufgabe gemacht – als Auftrag zu gemeinsamem Handeln.

Zahlreiche Versäumnisse

In einem politischen System, in dem sich alle relevanten politischen Kreise in einer Regelmäßigkeit von 75 Prozent zum Konsens bei Nationalratsbeschlüssen versammeln, kann man in einer Welt der Inklusion nicht für Ausgrenzung optieren. Die Organisationsideologie der Inklusion und der Anspruch nach umfassender Robustheit verlangt nach neuem Denken in der Politik.

Willy Brandt beendete seine Rede vor 44 Jahren mit dem Satz „Demokratie: Wir fangen erst jetzt richtig an“. Hat er da etwa an das Österreich des Jahres 2013 gedacht? Das sicher nicht. Österreich scheint manches versäumt zu haben. Verstärktem Gegenwind halten schwache politische Strukturen keine weiteren fünf Jahre stand. Es wäre an der Zeit, neu zu bauen und umzubauen.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Dr. Bernhard Löhri,
(*1953) absolvierte die Wirtschaftsuni Wien. Die beruflichen Stationen konfrontierten ihn mit Fragen der Managementaus- und -weiterbildung und der Organisationsentwicklung in Management und Politik – national und international. Letzteres im Rahmen von Missionen des Rates der EU auf dem Westbalkan. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.10.2013)

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