Ungarn als Opfer? Nein, Lage der Juden spitzt sich zu!

Replik. Tamás Fricz klagte über das „entstellte Bild Ungarns in der Weltpresse“: zu Unrecht!

Ende der 1990er-Jahre verschob sich der Fokus im Umgang mit der Judenvernichtung durch das nationalsozialistische Terrorregime von „harten“ Fragen der Entschädigung und Restitution auf „weiche“ Themen wie symbolische Bekenntnisse und Holocaust-Erziehung. Der von Tamás Fricz in seinem „Presse“-Gastkommentar (22.11.) angesprochene Holocaust-Gedenktag in Ungarn ist ein Ergebnis dieser Entwicklung.

Alle Staaten sollten am 27.Jänner, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, oder einem anderen, national bedeutenden Datum des Holocaust gedenken. Neu daran ist, dass nun das „negative Erinnern“ an die vom eigenen Kollektiv begangenen statt der erlittenen Verbrechen im Vordergrund steht. Ritualisiertes Gedenken birgt aber auch die Gefahr bloßer Lippenbekenntnisse, die keine Konsequenz für den Umgang mit und das Lernen aus der Vergangenheit haben.

Fricz, Direktor des Instituts für das 21.Jahrhundert, das auch das nationalistische Museum „Haus des Terrors“ in Budapest unterhält, treibt diese Problematik mit dem Verweis auf den Holocaust-Gedenktag auf die Spitze. Es geht ihm nicht um eine kritische Auseinandersetzung mit der Vernichtung der ungarischen Juden oder dem unter der Regierung von Viktor Orbán betriebenen Kult um Miklós Horthy, der dafür mitverantwortlich gewesen ist.

Erinnerung und Leugnung

Der Verweis auf die Pflege des Holocaust-Gedenkens soll Ungarn vom „Vorwurf des Antisemitismus“ reinwaschen. Die internationale Presse kritisiere, dass sich Orbán von der rechtsradikalen Partei Jobbik nicht klar genug abgrenze. Sie suggeriere ferner, dass Juden vermehrt das Land verlassen würden, weil sie sich bedroht fühlten.

Beide Punkte wischt Fricz bloß durch den Hinweis beiseite, dass das „keinerlei Bezug zur Realität“ habe – und bringt als „Gegenargument“ die Renovierung von Synagogen und das Holocaust-Gedenken vor. Das ist ein klassisches Beispiel dafür, dass sich die Erinnerung an tote Juden nur allzu leicht zur Leugnung ihrer jetzigen Bedrohung instrumentalisieren lässt.

Traurige Spitzenwerte

Um den „Vorwurf des Antisemitismus und Rechtsradikalismus“ abzuwehren, verweist Fricz auf eine 2012 veröffentlichte Studie der EU-Agentur für Grundrechte (FRA), laut der es in Ungarn weniger antisemitische Übergriffe als in anderen Ländern gebe.

Tatsächlich wird darin nur festgestellt, dass in Ungarn keine offiziellen Daten spezifisch über Antisemitismus erhoben werden, sondern bloß über „violence against a member of a community“. Aber auch diese Zahlen waren zum Zeitpunkt der Publikation nicht verfügbar, weshalb nur inoffizielle Zahlen angegeben werden konnten.

Die vor wenigen Wochen veröffentlichte „FRA-Erhebung zu Diskriminierung und Hasskriminalität gegenüber Jüdinnen und Juden“, die auf Befragungen der jüdischen Gemeinden beruht, ergab hingegen, dass in Ungarn 43 Prozent der Befragten Zeugen eines antisemitischen Vorfalls waren und 48 Prozent bereits an Auswanderung gedacht haben – beides traurige „Spitzenwerte“ in Europa.

Fricz' Verweis auf den Holocaust-Gedenktag und die EU-Studie dienen der Leugnung der sich zuspitzenden Lage in seinem Land. Wenn er Ungarn als Opfer einer „konzertierten Aktion“ der „Weltpresse“ darstellt, die in „auffällig gleichklingender Weise“ „alle möglichen Strafmaßnahmen“ gegen Ungarn fordere, verwundert es nicht, dass Fricz keinen Antisemitismus in Ungarn entdecken kann.

Ljiljana Radonic analysiert postsozialistische Gedenkmuseen an der Akademie der Wissenschaften und lehrt über europäische Erinnerungskonflikte am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2013)

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