Fanal in Kiew: Ist Lenin endgültig vom Sockel gestürzt?

Mit der Oktoberrevolution 1917 begann ein europäischer Bürgerkrieg.

Als die Demonstranten in Kiew eine Lenin-Statue zu Fall brachten, nahmen sie eine symbolische Beurteilung der Geschichte vor. Denn das „kurze 20.Jahrhundert“ brachte nicht nur die „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkriegs, der vor allem durch seine Friedensschlüsse, die keine echten waren, den noch schrecklicheren Zweiten nach sich zog, hervor. Auch die Russische Oktoberrevolution läutete eine Epoche des europäischen Bürgerkriegs ein.

Die Revolution von 1917 war nämlich gar keine echte Revolution, sondern ein Staatsstreich – ja mehr noch: ein blindwütiges Abenteuer, das in der Hoffnung vom Zaun gebrochen wurde, von einer in Europa zentrierten Weltrevolution abgelöst und weitergeführt zu werden.

Der Staatsstreich von 1917 verstieß nicht nur gegen unterentwickelte Tatsachen und die politische Vernunft, er kam auch unter Vergewaltigung der Grundsätze der marxistischen Theorie, auf die sich Lenin berief, zustande.

Der marxistische Theoretiker der II. Internationale, der aus Österreich stammende Karl Kautsky, versagte dem sowjetischen Abenteuer denn auch die marxistische Legitimation. Er warf den Bolschewiki vor, der Tollkühnheit einer kleinen Minderheit erlegen zu sein, und prophezeite den Zusammenbruch des Gebildes, das aus dieser Pseudorevolution hervorgehen würde. Der Kollaps ließ dann allerdings 70 Jahre auf sich warten, erfolgte aber trotz des gewonnenen Zweiten Weltkriegs umso gründlicher, zumal der Kommunismus auf einer nicht funktionierenden Ökonomie aufgebaut war.

Unkosten eines Experiments

Die Oktoberrevolution blieb nicht ohne weitreichende Folgen für die europäischen Demokratien, die die Unkosten des sowjetischen Experiments zu begleichen hatten. Der Faschismus war ein Reflex und eine Abwehrreaktion auf und gegen die Vorgabe von 1917. Ohne die Drohung einer bolschewistischen Machtübernahme und deren Abwehr wäre Hitler in Deutschland nie an die Macht gekommen, der Antisemitismus hätte dazu bei Weitem nicht ausgereicht.

Am Ende des 20.Jahrhunderts waren beide totalitären Systeme, der Nationalsozialismus und der Bolschewismus, zusammengebrochen, zwei zeitweilig sogar verbündete Systeme, die an ihrer Maßlosigkeit und der Verkennung der realen Weltlage zugrundegingen.

Unheil für die ganze Welt

Die Entartung des Stalinismus war nicht eine spätere und nachträgliche Fehlentwicklung, sondern die Konsequenz des Leninismus, der nicht nur ein großes Unglück für Russland selbst, sondern ein Unheil für die ganze Welt war.

Es ist erstaunlich, dass selbst eine Persönlichkeit vom historischen Format eines Michail Gorbatschow, der zum Liquidator des alten Systems wider Willen wurde, sich nicht bis zu der Konsequenz vorwagte, dass der Bankrott des kommunistischen Systems schon bei Lenin und der von ihm gegen den Willen selbst seiner eigenen Partei inszenierten Aktion angelegt war und dass aus so verfehlten Ursprüngen auf die Dauer nichts Haltbares erwachsen konnte.

Gorbatschows Beispiel beweist wieder einmal, dass auch große Persönlichkeiten Tatsachen schaffen, ohne deren Voraussetzungen hinreichend durchdacht zu haben. Wenn man will, kann man darin die Hegel'sche „List der Vernunft“ erblicken oder auch die Einsicht von Friedrich Engels bestätigt finden, dass in der Geschichte alle etwas in bestimmter Absicht tun, zum Schluss aber herauskommt, was keiner gewollt und vorausgesehen hat. Wenn also die Lenin-Statue in Kiew fällt, stellt sich die Frage, ob damit Lenin endgültig geschlagen wird.

Norbert Leser war Professor für Sozialphilosophie an der Universität Wien und Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für neuere österreichische Geistesgeschichte in Wien.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.12.2013)

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