Nato-kompatible Neutralität? Wien schweigt

Auf dem bevorstehenden EU-Gipfel in Brüssel könnte es Beschlüsse zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geben, die gerade für neutrale Staaten wie Österreich gravierende Folgen haben könnten.

Die Idee eines Nato-kompatiblen militärischen Industriekomplexes innerhalb der EU sowie die „Erhöhung der Einsatzwahrscheinlichkeit“ der EU-Battlegroups werden durch die österreichische Bundesregierung begrüßt und unterstützt. Die Bürger hat man dazu sicherheitshalber lieber nicht befragt.

Aber blicken wir ein paar Monate zurück: Ende Juli legte die EU-Kommission eine Mitteilung mit dem Titel „Auf dem Weg zu einem wettbewerbsfähigeren und effizienteren Verteidigungs- und Sicherheitssektor“ vor. Am 19. und 20.Dezember sollen sich nun die Staats- und Regierungschefs bei einem Gipfeltreffen in Brüssel auf Grundlage dieses Papiers mit der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik beschäftigen.

Schrumpfende Militärbudgets

In dem Papier der EU-Kommission vom Juli sind Maßnahmen zum Ausbau des Binnenmarktes für Verteidigungsgüter, zur Förderung einer wettbewerbsfähigeren Verteidigungsindustrie und von Synergien zwischen der zivilen und der militärischen Forschung vorgesehen. Darüber hinaus beschäftigt es sich auch gleich noch mit Möglichkeiten und Tätigkeitsfeldern eines künftigen EU-weiten militärischen Industriekomplexes – etwa Energie, Raumfahrtanwendungen und sogenannten Fähigkeiten mit doppeltem Verwendungszweck.

Als Begründung werden strategische und geopolitische Veränderungen sowie schrumpfende nationale Verteidigungsetats angeführt. Gleichzeitig würden die Sicherheitsaufgaben jedoch zahlreicher, komplexer, miteinander verflochten und schwerer vorhersehbar.

In dieser Lage müsse die EU mehr Verantwortung für ihre Sicherheit nach innen wie nach außen übernehmen. Gleich zu Beginn des Textes und somit an prominenter Stelle wird darauf hingewiesen, dass dies alles mit der Nato und ihren Grundsätzen vollständig vereinbar sein müsse. Eine Begründung für diese Festlegung bleibt die EU-Kommission schuldig.

Eine breite öffentliche Diskussion über diese – zumindest für neutrale EU-Mitgliedstaaten weitreichende Festlegung – ist bisher unterblieben. Selbst in der neutralitätsfixierten österreichischen Parteienlandschaft hat es niemand der Mühe wert gefunden, dieses Thema aufzugreifen. Sogar im zurückliegenden Nationalratswahlkampf wurde die angestrebte Nato-Selbstunterwerfung nicht erwähnt.

Bemerkenswert ist die Betonung der industriepolitischen Bedeutung des Vorhabens. Obwohl Verteidigung und Sicherheit nach wie vor in erster Linie in die Zuständigkeit der jeweiligen Mitgliedstaaten fallen, konstruiert die EU eine binnenmarktpolitische Notwendigkeit zur Koordinierung und Zusammenarbeit.

Fehlende Koordinierung

Dies sei deshalb besonders wichtig, weil die derzeitige Krise eine Branche hart treffe, die von strategischer Bedeutung für Europa sei. Darüber hinaus handelt es sich ja um einen Wirtschaftszweig, der allein 2012 einen Umsatz von 96 Milliarden Euro erwirtschaftete, rund 400.000 Personen beschäftigte und indirekt knapp 960.000 weitere Arbeitsplätze schuf.

Die Spitzenforschung der europäischen Rüstungsindustrie habe wichtige indirekte Auswirkungen auf andere Wirtschaftszweige, etwa die Elektronikbranche oder die Luft- und Raumfahrt, und sorge für Wachstum und Beschäftigungsmöglichkeiten für tausende hoch qualifizierte Arbeitskräfte.

Der europäische Rüstungssektor würde besonders darunter leiden, dass die Ausgaben der einzelnen Mitgliedstaaten nicht im Hinblick auf gemeinsame strategische Ziele hin koordiniert werden.

Von 2001 bis 2010 gingen die jährlichen Verteidigungsausgaben innerhalb der EU von 251 Milliarden Euro auf 194 Milliarden Euro zurück. Diese Mittelkürzungen hätten erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Rüstungsbranche und führen dazu, dass bestehende und geplante Programme zurückgefahren werden müssten. Dies betreffe vor allem die Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen für Verteidigung.

Von 2005 bis 2010 wurden die europäischen Forschungs- und Entwicklungshaushalte um 14Prozent auf neun Milliarden Euro gekürzt. Zum Beweis, dass Europa ins militärische Hintertreffen gerät, wird darauf hingewiesen, dass allein die USA heute sieben Mal mehr für militärische Forschung und Entwicklung ausgeben als alle EU-Mitgliedstaaten zusammen. Nur am Rande wird erwähnt, dass trotz all dieser offensichtlich lebensbedrohenden Kürzungen alle EU-Mitglieder zusammen 2011 insgesamt noch immer mehr für Verteidigung ausgegeben haben als China, Russland und Japan zusammen genommen.

Wahrscheinlichere Einsätze

Trotz des Nagens am finanziellen Hungertuch verfügen die EU-Mitglieder zusammen über insgesamt etwa 1,6 Millionen Soldaten. Der Vorschlag der EU-Kommission zu all dem liegt jedenfalls auf dem Tisch: koordinieren und konzentrieren und den Anschluss an die USA nicht verlieren. Und das Ganze natürlich Nato-kompatibel. Es ist unverständlich, dass ein solches Grundlagenpapier bereits vor Monaten präsentiert wurde und die Öffentlichkeit dazu schweigt.

Zweiter Schwerpunkt des kommenden Verteidigungsgipfels sind Überlegungen, wie man die sogenannte „Einsatzwahrscheinlichkeit“ der EU-Battlegroups erhöhen kann. Diese 2004 beschlossenen EU-Eingreiftruppen existieren nun schon einige Zeit und sind – offensichtlich zur großen Enttäuschung der handelnden Personen – noch immer nicht eingesetzt worden.

Die jeweils halbjährlich aus verschiedenen EU-Mitgliedern gebildeten Kampfverbände sind dafür vorgesehen, innerhalb von zehn Tagen einsatzbereit und nach weiteren fünf Tagen am Einsatzort zu sein. Dieser kann sich an jedem beliebigen Ort in einem Radius von 6000 Kilometern rund um Brüssel befinden.

Heraus aus den Kasernen

Zuletzt mehrten sich Stimmen, dass man diese Einsatztruppen nicht ungenützt in europäischen Kasernen verkommen lassen sollte. Es wird darauf gedrängt, dass diese Truppen nun auch endlich einmal zum Einsatz kommen. Unter der technokratischen Verharmlosung „Erhöhung der Einsatzwahrscheinlichkeit“ werden diesbezüglich Überlegungen angestellt.

Selbst Österreichs Verteidigungsminister Klug hat sich jüngst in einem Interview massiv für diese Art von Einsatz ausgesprochen. Ohne Diskussion hat sich das neutrale Österreich offensichtlich im vorauseilenden Gehorsam darauf festgelegt, an militärischen Interventionen teilnehmen zu wollen.

Dies, obwohl Studien – wie jüngst etwa eine der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin – klar belegen, dass ein Großteil der EU-Bevölkerung das freiwillige Eingreifen in ferne militärische Konflikte nicht unterstützt.

Kein vernünftiger Mensch kann eine „Erhöhung der Einsatzwahrscheinlichkeit“ von Soldaten fordern. Die wichtigste Frage bleibt jedoch, warum die Politik in Österreich dazu beharrlich schweigt.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Stefan Brocza
hat in Wien, St.Gallen und Harvard studiert. Er beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Europapolitik und internationalen Angelegenheiten (EU-Koordinierung des Innenministeriums in Wien, Generalsekretariat des EU-Ministerrates in Brüssel). Aktuell lehrt er an den Universitäten Wien und Salzburg. Darüber hinaus ist er als politischer Publizist und Analyst auf drei Kontinenten tätig. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.12.2013)

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