Darben am Fuße der Aufstiegsleiter

Die Kinder vieler Gastarbeiter suchen ihre Wege aus traditionellen Zwängen - und landen in Parks und Wettbüros.

Ein junger Mann kauert auf unserem Dach, am Rande des Abgrundes. Ein Metallteil fällt ihm aus der Hand und landet drei Stockwerke tiefer im Hof. In seinem gelben Kapuzenpullover sieht er ein wenig aus wie ein Außerirdischer. Dabei ist er „bloß“ ein Bauspengler, der eine Schneesicherung montiert. Es sind Männer aus Ungarn, die für eine Schwechater Firma auf unserem alten, kaputten Dach akrobatisch ihre Arbeit verrichten. Der Wind ist böig, umso besorgter schau ich dem Treiben auf dem Dach draußen zu.

„Sei einen Kopf größer als ich“, sagte der türkische Vater zu seiner Tochter, der Rapperin Esra. Auch Bauspengler, meinte er damit, dass seine Kinder nicht in seine Fußstapfen treten und auch im Baugewerbe Arbeit finden sollten.

Die Kinder beziehungsweise die Enkel der Gastarbeiter sind in Schwierigkeiten geraten. Sie weigern sich, die zermürbenden und gesundheitsschädlichen Jobs ihrer schweigsamen Väter zu übernehmen. Sie wissen aber nicht so recht, wohin – und verlaufen sich dann in Parks oder in Wettcafés.

Eigentlich müsste jemand für die Kinder der Gastarbeiter neue Berufe erfinden, in denen sie ihren Sinn für Dramatik, ihre Energie und ihr soziales Gewissen in Unterstützung für andere ausleben können.

Die Wissenschaftlerin Irmtraud Karlsson hat in einer Studie aufgedeckt, dass hunderte Gastarbeiterkinder ihren Eltern weggenommen wurden. Dem Jugendamt reichte schon, wenn es keine Kochgelegenheit gab. Andere Kinder mussten jahrelang im Herkunftsland ohne Eltern zurechtkommen.

Allein gelassene Kids

Eine Belgraderin erzählte mir, dass sie als Baby mit 20 anderen Kindern, deren Eltern alle in Österreich als Gastarbeiter tätig waren, bei der Großmutter lebte. Sie lag nur in der Wiege herum, weil die Oma keine Zeit hatte, alle ihr anvertrauten Kinder zu betreuen.

Die österreichische Politik begünstigte solche Verhältnisse durch entsprechende Gesetze zur Familienzusammenführung oder trug sie stillschweigend mit. Nun wundert man sich, wenn diese Trennungskinder sich in Gruppen zusammentun und laut kreischend und als Angeber Aufmerksamkeit erheischen wollen. Wir sind diesen allein gelassenen Kids eigentlich etwas schuldig.

Bildung und Leistung

Gleichzeitig schießen sich rechte Populisten auf die zweite und dritte Generation der Gastarbeiter ein. Denn sie spüren intuitiv, dass diese Jugendlichen sich aus den traditionellen Berufshierarchien entfernen wollen. Diese Kids wollen keine schlecht bezahlten Jobs am Fuße der gesellschaftlichen Aufstiegsleiter mehr ausüben. Dann schon lieber auf das Arbeitsamt und weiter im Park herumsitzen.

Bildung sei etwas Genussvolles, sagt die Rapperin Esra, sie sollte deshalb nicht ständig mit dem Leistungsprinzip verbunden werden. Sie glaubt auch, dass der vom Integrationsstaatssekretär inzwischen zum Außenminister aufgestiegene Sebastian Kurz mit seiner Theorie, dass nur solche, die etwas leisten, Österreicher werden können, zu einer Verweigerungshaltung beitrage.

Ein klassisches, humanistisch gebildetes Bildungsbürgertum sollte Esras Wünsche verstehen und sollte die Gastarbeiterkinder, die sich viele Fragen stellen, wo es geht, auch unterstützen.

Esras Bruder Enes wiederum fragt: „Warum wird mein Vater nicht als Österreicher behandelt? Er ist seit 34 Jahren sozialversichert, er repariert hier die Dächer als Bauspengler. Was muss man noch machen, um als Österreicher zu gelten?“

Der junge Ungar erscheint in der offenen Dachbodentür, aus der es eiskalt zieht. Er trägt einen Cowboyhut. Er ist nicht vom Dach gestürzt. Eigentlich würde ich ihm einen Job wünschen, der nicht so gefährlich ist. Aber wer wird dann unser Dach reparieren?

Kerstin Kellermann ist freie Journalistin in Wien. Unter anderem schreibt sie regelmäßig für die Obdachlosenzeitung „Augustin“.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2013)

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