Wo gehört eigentlich die Ukraine hin?

Die vier Faktoren, die maßgeblich dafür sind, welche Länder letztlich als europäisch eingestuft werden können.

Wo die Grenzen Europas verlaufen und welche Länder als europäische eingestuft werden können, hängt zumindest von vier Faktoren ab: erstens von der subjektiven Entscheidung oder dem Gefühl, zur europäischen Gemeinschaft zu gehören, zweitens von der Aufnahmekapazität und dem Aufnahmewillen der EU-Mitgliedstaaten, drittens von der militärisch-strategischen Bedeutung eines Landes und viertens schließlich von den quasi konstruierten, jedoch zugleich als objektiv wahrgenommenen Grenzen Europas.

Wie sieht denn diese Faktorenkonstellation im Fall der Ukraine aus? Was das subjektive Zugehörigkeitsgefühls betrifft, ist festzuhalten, dass die Ukraine seit jeher ein in sich zerrissenes Land ist, in dem die westliche Hälfte eher zur europäischen Gemeinschaft hinstrebt, während der östliche Teil nach Russland hin tendiert.

Aufgebesserte Angebote

Der Machtkampf in der Kiew und die Demonstrationen überwinden allerdings mittlerweile diese Dichotomie, indem Bürger aus beiden Teilen des Landes für Europa und für dessen Werte demonstrieren. Deswegen ist zu vermuten, dass sich die Ukrainer mehrheitlich für Europa entscheiden würden, wenn sie vor einer Wahl stünden.

Der zweite Faktor, jener der Aufnahmekapazität und des Aufnahmewillens der Union, scheint vor dieser subjektiven Entscheidung für Europa zu verblassen. Als Wertegemeinschaft haben sich die EU und somit auch ihre Mitgliedstaaten für den Freiheitsdrang der Ukrainer einzusetzen.

Wenn sich der Machtkampf im Sinn der Demonstranten entwickelt, wird die EU ihre wirtschaftlichen und politischen Angebote an die Ukraine aufbessern müssen. Inzwischen heißt es ja auch, dass die EU und die USA ein transatlantisches Angebot zur Unterstützung der Ukraine zusammengestellt hätten, eine Kombination aus „Zuckerbrot und Peitsche“.

Russland würde sich wohl nicht militärisch gegen den ukrainischen Mehrheitswillen stellen. Europa hingegen wird allfällige russische energiepolitische Interventionen gegen die Ukraine abfedern müssen.

Einheitliche EU-Strategie fehlt

Der dritte, der militärisch-strategische Faktor bei der Berücksichtigung der Ukraine im europäischen Projekt ist ebenfalls kein Grund, die Ukraine als Teil der europäischen Familie abzulehnen. Denn in Finnland, Polen und in den baltischen EU-Staaten gibt es bereits eine Außengrenze zu Russland, mit der die Europäer aufgrund der engen wirtschaftlichen Wechselbeziehungen gut umgehen können. Mit EU-Außengrenzen in der Türkei könnten die Europäer viel schlechter umgehen, zumal es für die schwach ausgeprägte europäische Außenpolitik eine Überforderung wäre, plötzlich Länder wie den Irak im Hinterhof zu haben.

Und zuletzt befindet sich die Ukraine viel mehr noch als beispielsweise die Türkei bereits innerhalb des als Europa wahrgenommenen Kontinents.

Der Konflikt auf dem Majdan in Kiew zeigt jedoch abermals, dass es um eine einheitliche EU-Strategie gegenüber Ländern wie der Ukraine – und eng damit verbunden gegenüber Russland – derzeit schlecht bestellt ist. Wir – und nicht nur die Ukraine – können es uns einfach nicht mehr leisten, vom Gas des russischen Bären derart stark abhängig zu sein.

Union hätte viel zu bieten

Außerdem hat die EU der Ukraine im Vergleich zu Russland sehr wohl viel zu bieten: bessere rechtsstaatliche und menschenrechtsbezogene Verhältnisse und einen riesigen Binnenmarkt. Vor allem aber auch individuelle Freiheit – und diese strebt doch schlussendlich jedes Volk an. Genau dabei sollte sich die europäische Familie unterstützend engagieren.

Dr. Manfred Kohler ist unabhängiger Forscher und hat auch schon als Lektor an der University of Kent gearbeitet. Derzeit arbeitet er beim Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2014)

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