Wem gehört eigentlich die Mariahilfer Straße?

Die Zukunft der jungen Generation ist eine andere als die der Autogesellschaft. Ihr Motto: mehr Lebensraum statt Fahrbahnen.

Die geografische Lage der inneren Mariahilfer Straße bestimmt, wer an der Befragung über die zukünftige Verkehrsorganisation teilnehmen darf, die Bewohner des sechsten und siebenten Bezirks. Entspricht das auch ihrer Bedeutung und den Folgen des Ergebnisses? Denn rechtlich ist die Straße öffentliches Gut und verantwortlich dafür ist das Land, die Stadt Wien.

Bei der Diskussion für und wider Fußgängerzone werden historische, verkehrstechnische, wirtschaftliche und auch politische Argumente ins Treffen geführt, wie auch schon seinerzeit in der Wiener Innenstadt, vor 45 Jahren. Damals glaubte die Mehrheit der Bevölkerung und die Wirtschaft felsenfest an die Zukunft des Autos in der Stadt. Eine Befragung hätte vermutlich verhindert, dass die Innenstadt das wurde, was sie heute ist.

Die Zahl der Autofahrten in der Kärntner Straße, auf Graben und Kohlmarkt überwog auch deutlich die der Fußgänger. Die Stadtverwaltung brauchte mehr als ein Jahrzehnt, um meiner begründeten Empfehlung, die Durchfahrt durch Herrengasse und Augustinerstraße zu unterbrechen, zu folgen.

Die Ursache der Probleme

Gehört die Mariahilfer Straße nur den Bezirksbewohnern oder ist eine umfassendere Sicht und Verantwortung erforderlich? Etwa, woher und wie das Geld in deren Geschäfte und Betriebe kommt? Wer nutzte bisher den öffentlichen Raum und wie? Was kann man daraus ableiten?

Dazu gibt es Ergebnisse von Kundenbefragungen. An Wochentagen kommen 80 Prozent der Kunden aus Wien, 14 Prozent aus Niederösterreich, fünf Prozent aus anderen Bundesländern und etwas mehr als ein Prozent aus dem Ausland.

Die überregionale und internationale Bedeutung der Mariahilfer Straße wird an Samstagen erkennbar, wenn der Anteil der Wiener nur noch zwei Drittel ausmacht, der Anteil aus Niederösterreich gleich bleibt, der Anteil aus anderen Bundesländern sich aber mehr als verdoppelt und der Anteil ausländischer Kunden auf sieben Prozent ansteigt. Aus den Bezirken 6 und 7 kommen an Wochentagen 26 Prozent, an Samstagen 16 Prozent der Kunden.

Die Mariahilfer Straße als Geschäftsstraße gehört so betrachtet nicht nur den benachbarten Bezirken. An Wochenenden übersteigt der Anteil der Kunden aus den Bundesländern die der Nachbarbezirke. Die absolute Mehrheit, die die Bedeutung der Mariahilfer Straße als überregionalen und internationalen Wirtschaftsfaktor der Stadt prägt, wird daher gar nicht gefragt.

Wie vor über vier Jahrzehnten wird die Diskussion auch in diesem Fall vor allem vom Autoverkehr beherrscht. Die misslungene Planung von 1996 ist die Ursache der heutigen Probleme. Statt eine zukunftweisende Lösung umzusetzen, wurde ein fauler Kompromiss realisiert, der weder fachlich noch verkehrs- und umweltpolitisch klare Akzente setzte. Eine „Fußgängerzone mit Autoverkehr“ ist ein Widerspruch in sich und daher unbefriedigend.

Über die verbliebenen Fahrbahnen wurden die benachbarten Bezirke nicht entlastet, sondern Autoverkehr hineingezogen. Damit fehlte der für eine dynamische Entwicklung erforderliche Raum. Die Trennung blieb erhalten, auch in den Köpfen der Bezirksbewohner und Lokalpolitiker.

Kunden und Bewohner sind heute schon viel weiter als die Politik und die sogenannten Experten, wie die Verkehrsmittelwahl zeigt. Kunden aus Mariahilf und Neubau kommen zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Autokunden aus den Nachbarbezirken gibt es praktisch keine.

Überschätzte Autokunden

Insgesamt sind es an Wochentagen rund fünf Prozent, an Samstagen bis zu acht Prozent der Kunden, die mit dem Auto kommen – und mit ihnen noch ein bis vier Prozent als Mitfahrer. Allein diese Zahlen belegen, dass nur ein Bruchteil der bisherigen Autofahrten in der Mariahilfer Straße in Beziehung zu den lokalen Geschäften und Betrieben steht. Mehr als zwei Drittel der Kunden kommen an Wochentagen mit öffentlichen Verkehrsmitteln, an Samstagen 62 Prozent, wobei der Anteil der Bahnkunden neun Prozent ausmacht. 26 bzw. 21 Prozent kommen zu Fuß.

Der Anteil der Kunden, die mit dem Fahrrad kommen, ist an Wochentagen unbedeutend, an Samstagen aber mit fünf Prozent in der Größenordnung der Autofahrer.

Aus Sicht der Verkehrsmittelwahl gehört die Mariahilfer Straße daher den Kunden des öffentlichen Verkehrs und den Fußgängern. Die Bedeutung des Autoverkehrs für die Wirtschaft in dieser Straße wurde und wird daher bei Weitem überschätzt.

Ist die Mariahilfer Straße daher primär eine Einkaufstraße? Neben dem Einkauf wird gebummelt und flaniert, 28 Prozent an Wochentagen, 33 Prozent an Samstagen. Man besucht eine Gaststätte oder ein Café, 19 Prozent an Wochen-, 30 Prozent an Samstagen. Sie ist aber auch für jeden sechsten Kunden ein Ort, an dem man sich trifft.

Keine reine Einkaufsstraße

Dieses Verhalten entspricht teilweise einem Profil von Fußgängerzonen und ist ausbaufähig. Im Vergleich etwa zur Favoritenstraße, die primär nur zum Einkauf aufgesucht wird, ist das Spektrum der Angebote in und der Erwartungen an die Mariahilfer Straße vielfältiger und breiter. Sie gehört daher auch den Bummlern, den Besuchern von Gaststätten und Cafés und auch jenen, die sich verabreden oder treffen wollen. Und dazu sucht man bekanntlich nicht einen unwirtlichen Ort auf. Sonst würde man dazu den Gürtel wählen, wo es genug Autoverkehr gibt.

Unzerschnitten durch den Autoverkehr wird die Mariahilfer Straße ihre Entwicklungspotenziale auch in benachbarte Bezirke tragen und auch dort nicht nur zu einer wirtschaftlichen Belebung führen, sondern auch zu Verbesserungen im öffentlichen Raum anregen, um diesen als Lebensraum zu gewinnen. Denn gute Beispiele verdrängen schlechte Sitten.

Als gutes Beispiel darf die Mariahilfer Straße aber nicht Stückwerk bleiben, sondern sie muss als Fußgängerzone die beiden Bezirke verbinden und mit einer modernen Straßenbahnlinie 13 auch den anderen Innenbezirken eine städtebauliche Mitte geben.

Die Ansprüche der Jungen

Wenn es um die Zukunft geht, spielt das Altersprofil der Kunden eine Rolle. In der jetzigen Diskussion hieß es, dass die Alten in der Stadt, die Jungen bei den Supermärkten am Stadtrand dominieren. Eine Hypothese, die durch Kundenbefragung widerlegt wurde. Es überwiegen in der inneren Mariahilfer Straße die Altersgruppen der Jüngeren. Die Straße wurde von den Jungen bereits entdeckt.

Deren Zukunft ist eine andere als die der Autogesellschaft. Sie besitzen Autos und fahren weniger, immer häufiger haben sie gar keinen Führerschein mehr. Sie stellen höhere Ansprüche an den öffentlichen Raum als die Autogesellschaft, sie wollen wieder Lebensraum statt Fahrbahnen und Abstellplätze. In diese Zukunft passt auch eine Fußgängerzone Mariahilfer Straße. Die Alternative wäre ein Rückfall in die Fehler des letzten Jahrhunderts.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Hermann Knoflacher
(* 1940 in Villach) studierte Bauingenieurs- und Vermessungswesen sowie Mathematik. Er war von 1989 bis 2007 Vorstand des Instituts für Verkehrsplanung und Verkehrswesen der TU Wien. Zahlreiche Publikationen, die sich zumeist kritisch mit den Auswüchsen der automobilen Gesellschaft auseinandersetzen. [ K. Roßboth ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.02.2014)

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