Die ukrainische Revolution als EU-Rettungsanker

Die Ukrainer sind wegen Europa auf die Straße gegangen. Nun bekommt Europa die Chance, sich selbst zu retten. Die Revolution bietet Europäern und Ukrainern die Möglichkeit, politische, finanzielle und moralische Probleme zu lösen.

Der Funke, der die Revolution in der Ukraine entzündete, hieß Europa. Nach Monaten der Vorbereitung weigerte sich Präsident Janukowitsch vergangenen November, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen. Stattdessen akzeptierte er das Versprechen Russlands auf finanzielle Hilfe. Die ersten Demonstranten auf dem Maidan, Kiews wichtigstem Platz, waren junge Studenten, die sich als Europäer sehen. Sie wollten für sich selbst eine Zukunft in Europa, sie sehen ihr Land als europäisches Land. Sie waren keine Experten, sahen Europa aber als Ausweg aus der Gesetzlosigkeit und der Korruption des Regimes Janukowitsch. Die Ukraine war ein Land, in dem die Führung versucht hatte, ihre politische und finanzielle Macht zu monopolisieren.

Als die Gewalt ausbrach, schlossen sich mehr Demonstranten an, ihre Hauptanliegen änderten sich. Als das Regime im Jänner eine Reihe von Gesetzen beschloss, welche die Meinungs- und Versammlungsfreiheit einschränkten und die Demonstranten kriminalisierten, lag das Hauptaugenmerk auf Rechtsstaatlichkeit und Anstand.

Zuerst Schüsse, dann Gespräche

Am 18. und 19. Februar entsandte das Regime tausende Sicherheitskräfte, um den Maidan zu räumen. Sie töteten mindestens 26 Menschen, aber die Demonstranten – meist ukrainische Durchschnittsbürger – verteidigten den Maidan die ganze Nacht lang. Am 20.Februar stellten ihnen die Sicherheitskräfte eine Falle. Diese zogen sich teilweise vom Maidan zurück. Als die Demonstranten ihnen folgten, schossen Scharfschützen, die auf Dächern postiert waren. Mindestens 26 Menschen wurden getötet.

Erst dann hat Europa reagiert. An diesem Tag war eine EU-Delegation in Kiew, der es gelangt, eine politische Vereinbarung zu verhandeln. Die Außenminister Polens, Deutschlands und Frankreichs waren in Kiew, um jenen Übergang auszuverhandeln, den viele Menschen seit Wochen wollten: eine Schwächung der Macht des Präsidenten, vorgezogene Neuwahlen und einen Waffenstillstand. Janukowitschs Polizei sah, woher der Wind wehte – und ging einfach nach Hause. Janukowitsch flüchtete, und die politische Revolution nahm ihren Anfang. Das Parlament trat zusammen, eine tiefgreifende Reform des gesamten politischen Systems begann. Die Ukraine ist wieder eine parlamentarische Demokratie, im Mai sollen Präsidentenwahlen stattfinden.

Die Idee Europas ist nie aus der Rhetorik der Demonstranten verschwunden, nur die Bedeutung hat sich geändert. Das Assoziierungsabkommen war einige Tage lang das Hauptthema. Als aber mehr Demonstranten kamen und stärker unterdrückt wurden, präsentierten sich die Ukrainer als wahre Europäer: Sie waren bereit, sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen für eine Vision, die für die meisten von uns selbstverständlich ist. Es ist verständlich, wenn ukrainische Demonstranten sagen, dass es erst eines Massenmordes bedurfte, damit die EU endlich reagierte. Das ist mehr als reine Rhetorik und zeigt auf, was uns die ukrainische Revolution über die EU lehrt.

Oligarchen benutzen EU

In der Ukraine ist ein Großteil des Vermögens in den Händen weniger. Janukowitsch wollte der größte aller Oligarchen werden. Seine engsten Berater waren auch unglaublich reich. Diese Leute – so wie ihre russischen Kollegen – lassen kein gutes Haar an der EU.

Nichtsdestotrotz schicken sie ihre Kinder in Privatschulen in Europa, deponieren ihr Geld in Banken von EU-Mitgliedsländern und beauftragen europäische Firmen, ihr Vermögen von Bank zu Bank zu schieben. Daher treffen sie einfache Maßnahmen wie Einreiseverbote oder das Einfrieren von Vermögen. Die ukrainischen Demonstranten erwarteten, dass die EU gegen eben jene Oligarchen vorgeht. Dieser Prozess hat nun begonnen, aber erst nachdem das Regime ein Massaker an den eigenen Leuten organisiert hatte. Hätte die EU eher reagiert – glauben verbitterte Demonstranten –, hätten Leben gerettet werden können.

Die ukrainische Revolution hat vielleicht die EU gerettet. Um in Zukunft nicht an Relevanz zu verlieren, muss die EU ihren unmittelbaren Nachbarn gegenüber eine gemeinsame Außenpolitik formulieren. Die Vermutung liegt nahe, dass die EU so spät reagierte, weil der Einfluss des ukrainischen Vermögens in den Mitgliedsländern, besonders in Österreich und in Großbritannien, so groß ist. Janukowitsch und seine Berater vertrauten dem österreichischen Bankgeheimnis, österreichischen Beratern und österreichischen Firmen, die ukrainisches Vermögen vermehrten. Janukowitschs degoutante Villa wurde von einer österreichischen Firma angemietet. Ukrainische Journalisten schreiben seit Jahren darüber, jetzt ziehen mit einiger Verzögerung Journalisten aus der EU nach. Ohne das Opfer vieler Ukrainer hätte die EU gar nicht bemerkt, dass sie durch jene Oligarchen, die sie bediente, ausgehöhlt wurde.

Das neue Parlament der Ukraine braucht Geld – und verdient eine Finanzspritze. Vom alten Regime hat das Parlament eine Beinahe-Pleite geerbt. Mit Unterstützung des IWF (Internationaler Währungsfonds), gekoppelt an strenge Bedingungen, sollte es sofort Gelder aus der EU und den USA bekommen. Gleichzeitig sollte über ein Freihandelsabkommen verhandelt werden, Institutionen Geld bekommen, die Mikrokredite vergeben, sowie die Visabestimmungen für normale Ukrainer – und nicht nur für Millionäre – aufgehoben werden.

Westliche Institutionen erwarten natürlich eine Gegenleistung: Reformen, die die endemische Korruption der Oligarchen verhindern. Der Westen, egal, was viele von uns denken, hat zu diesem Thema keinen moralischen Standpunkt. Die Bedingungen sollten nicht nur auf die Ukraine zutreffen, sondern auch auf uns. Bis westliche Institution nicht selbst ihre Gesetze gegen die Reichsten umgesetzt haben, sollten wir zumindest versuchen, nicht selbstgefällig und moralisierend zu sein.

Kriminelles Vermögen

Die Revolution bietet Europäern und Ukrainern die Möglichkeit, zusammen politische, finanzielle und moralische Probleme zu lösen. Eine Untersuchungskommission aus ukrainischen und europäischen Experten sollte das ukrainische Vermögen in der EU untersuchen. Gelder, die durch kriminelle Handlungen angehäuft wurden, könnten in das ukrainische Budget einfließen.

Nicht nur für das ukrainische Parlament, auch für die EU wäre das ein guter Ansatz: Die Ukraine kann ohne effektive Fiskalmaßnahmen keine sinnvolle Innenpolitik machen. Die neue Regierung kann erst dann Gerechtigkeit üben, wenn sie Zugriff auf Vermögen im Ausland hat. Genau so läuft es für die EU: Die EU kann keine effektive Außenpolitik machen, wenn sie durch Oligarchen beeinflusst wird, deren Vermögen auf eine Art entstanden ist, die von der EU abgelehnt wird oder die gegen Gesetze verstößt. Die EU hat ihre eigene Identität, die sie von den USA und von Russland unterscheidet: ihr Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit, zu sozialer Gerechtigkeit und zu Gleichheit. Dank der ukrainischen Revolutionäre haben jetzt die Europäer die Chance, ihre eigenen Werte zu retten.

(Übersetzung: Irene Zöch)

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Timothy Snyder
(*1969) ist Historiker und Professor für Geschichte an der Yale University in den USA. Bekannt wurde er vor allem für seine Werke zum Holocaust (z.B. „Bloodlands“, erschienen 2010) Seit 2008 ist Snyder am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien Permanent Fellow. [ Mirjam Reither ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.03.2014)

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