Das perverse Verhalten des Premiers Shinzo Abe

Japans Regierungschef verärgert seine Verbündeten in Asien, blamiert die USA und verschlimmert das Verhältnis zu China.

Der japanische Ministerpräsident Shinzo Abe rührt im Gemenge der nationalen Rivalitäten und historischen Ressentiments Asiens immer wieder um. Jüngst wies er eine Historikerkommission an, jene offizielle Entschuldigung unter die Lupe zu nehmen, die man 1993 an die in japanischen Militärbordellen gehaltenen Sexsklavinnen des Zweiten Weltkriegs gerichtet hatte. Laut diversen Erklärungen glauben einige der engsten Berater Abes, dass diese Entschuldigung nicht in Ordnung gewesen sei. Daher könnte die Kommission durchaus zum Schluss kommen, dass Japan offiziell nie an Prostitution beteiligt war und sein „aufrichtiges Bedauern“ deshalb widerrufen werden sollte.

Welchen perversen Grund könnte Abe haben, ein derartiges Ergebnis herbeiführen zu wollen? Dunkle Kapitel der Geschichte zu beschönigen oder zu leugnen ist natürlich kein ausschließlich japanisches Phänomen. In der vom russischen Präsidenten Wladimir Putin favorisierten „patriotischen“ Bildung ist auch kein Platz für Stalins Massenmorde. Und das Massaker auf dem Pekinger Tian'anmen-Platz – um nur ein blutiges Ereignis der jüngeren Geschichte Chinas zu nennen – ist offiziell auch in Vergessenheit geraten.

Chauvinistische Kleingeister

Dennoch: Japan ist eine Demokratie mit Meinungsfreiheit. Anlass für die offizielle Entschuldigung von 1993 bildeten von einem Historiker entdeckte Dokumente, aus denen hervorging, dass die Kaiserliche Japanische Armee an der Errichtung, wenn auch nicht unbedingt am Betrieb von Einrichtungen beteiligt war, die man „Troststationen“ nannte.

Einer der offiziellen Gründe war, dass die weit verbreitete Vergewaltigung chinesischer Frauen durch japanische Soldaten zu viel Widerstand in der lokalen Bevölkerung ausgelöst hatte. Um die Bordelle mit jungen Frauen zu versorgen, bediente man sich verschiedener Mittel. Doch da es kein Entrinnen gab, waren die Frauen, sobald sie in diesem System landeten, praktisch versklavt.

Das wird offiziell auch eingeräumt, weshalb sich die Frage stellt, warum man diese entsetzliche Geschichte erneut auf das Tapet bringt. Dies zu einer Zeit, da der Widerruf der Entschuldigung die ohnehin so angespannten Beziehungen Japans zu China und Südkorea weiter verschärfen würde.

Wären Abe und seine Getreuen weltoffen und geprägt von tiefem Verständnis für oder die Sorge um andere Länder, wäre die Entscheidung zur Überprüfung der Entschuldigung von 1993 tatsächlich außergewöhnlich. Aber wie bei vielen, vor allem der nationalistischen Rechten angehörenden, Spitzenpolitikern handelt es sich bei ihnen um chauvinistische Kleingeister, deren Sorge beinahe ausschließlich dem eigenen Land gilt. In ihrem Bestreben, die Geschichte umzudeuten, denken sie nicht wirklich an Koreaner oder Chinesen, sondern an die politischen Gegner daheim.

Die Ansichten der Japaner hinsichtlich ihrer Kriegsvergangenheit sind zutiefst gespalten. Darin spiegeln sich die unmittelbar nach dem Krieg gezogenen politischen Kampflinien wider, als Japan unter alliierter Besatzung stand.

Den USA, der obersten Besatzungsmacht, ging es in erster Linie darum, die japanische Gesellschaft so zu reformieren, dass ein weiterer Krieg undenkbar würde. Die Anbetung des Kaisers wurde abgeschafft, obwohl Hirohito auf dem Thron blieb. Im Bildungssystem entfernte man sämtliche militaristischen und „feudalen“ Elemente.

Unter der neuen, von den Amerikanern geschriebenen pazifistischen Verfassung, war der Einsatz von Streitkräften verboten. Und die japanischen Kriegsführer standen wegen Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschheit in Tokio vor alliierten Richtern.

Der verärgerte Großvater

Die meisten Japaner hatten den Krieg und militärische Drohungen gründlich satt und begrüßten deshalb alle diese Entwicklungen. Doch es gab immer auch eine rechte Minderheit, die sich ob des Verlustes des Nationalstolzes und der nationalen Souveränität gedemütigt fühlte und entrüstet zeigte. Denn von nun an würde Japans Sicherheit vollkommen vom Schutz der USA abhängig sein.

Einer der wichtigsten Führungspersonen dieser Gruppe verärgerter Nationalisten war Nobusuke Kishi, Abes Großvater. Kishis Ziel war es, den Stolz und die Souveränität Japans durch eine Überarbeitung der Verfassung und die Wiederbelebung des altmodischen Patriotismus wiederherzustellen und somit auch einige der Bildungsreformen der Amerikaner rückgängig zu machen. Das gelang ihm nicht. Denn die meisten Japaner reagierten noch immer allergisch auf alles, das einen militaristischen Beigeschmack hatte.

Bis vor Kurzem gab es im japanischen Bildungswesen eine starke linksgerichtete Strömung. Manche Medien nützten Japans horrende Kriegsgeschichte als Argument gegen jede Art des Revisionismus.

Geleugnetes Massaker

Doch solange die japanische Linke die Geschichte für dieses politische Argument nutzte, schlugen die Nationalisten zurück und behaupteten, die Berichte über die Gräueltaten während des Krieges wären stark übertrieben. Bücher über das berüchtigte Massaker von Nanking 1937 oder über die Versklavung von „Trostfrauen“ in Militärbordellen wurden als „historischer Masochismus“ verunglimpft.

Die Linke beschuldigte man der Mittäterschaft bei der Verbreitung ausländischer – also chinesischer, koreanischer oder amerikanischer – Propaganda.

Somit lautet die moderne japanische Version des Populismus: Durch Verfälschung der Geschichte des glorreichen japanischen Krieges zur „Befreiung Asiens“ hätten die „liberalen Eliten“ die Charakterfestigkeit der Menschen in Japan untergraben. Inzwischen haben Japans liberale Eliten viel von ihrem früheren Einfluss eingebüßt. Zugleich ist infolge dieser Entwicklung die Stimme der Nationalisten zuletzt immer lauter geworden.

Deshalb kommt Abe mit der Ernennung von Kumpeln zu Vorstandsmitgliedern der nationalen Rundfunkgesellschaft NHK durch, die offen behaupten, dass Militärbordelle völlig private Unternehmen gewesen wären und das Massaker von Nanking eine ausländische Erfindung sei. Es geht nicht um historische Wahrheit, sondern um politische Herrschaft.

Ein riskantes Spiel

Japans Premierminister spielt ein riskantes Spiel. Er verärgert die Verbündeten in Asien, blamiert die USA und verschlimmert die ohnehin schon schlechten Beziehungen zu China. Wie Putin führt Abe sich und sein Land aus innenpolitischen Gründen noch weiter in die Isolation. In einer zunehmend von China dominierten Region wird er ohne asiatische Freunde dastehen.

An diesem Punkt wird Abes Verhalten völlig pervers. Schließlich ist ein in Asien isoliertes Japan noch stärker von den USA abhängig. Also dem Kriegsgewinner, den Abe und seine nationalistischen Getreuen für jene Nachkriegsordnung verantwortlich machen, die sie nun revidieren wollen.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

Copyright: Project Syndicate 2014

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zum Autor

Ian Buruma (*28.12.1951 in Den Haag) studierte chinesische Literatur in Leiden und japanischen Film in Tokio. 2003 wurde er Professor für Demokratie und Menschenrechte am Bard College in New York; 2008 mit dem Erasmus-Preis ausgezeichnet. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt ist in diesem Jahr sein Buch „Year Zero: A History of 1945“erschienen. [Internet]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2014)

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