Umweltpolitik braucht mehr Mut zum Dissens

Der andauernde Streit um den Weltklimarat verdeutlicht die Risken wissenschaftlicher Konsenspolitik.

Der Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change, kurz IPCC) kommt nicht zur Ruhe. 1988 von den Vereinten Nationen und der Weltmeteorologiebehörde gegründet, informiert der IPCC in seinen aufwendig erstellten Weltklimaberichten alle paar Jahre über Stand und Gefahren der globalen Erwärmung.

Die Klimaskeptiker allerdings – also jene, die keinen Zusammenhang zwischen Klimawandel und menschlichen Aktivitäten sehen wollen oder können – hat der IPCC bisher nicht zum Verstummen bringen können. Daran wird sich auch mit dem aktuellsten Weltklimabericht, dessen zweiter Teil zu Beginn dieser Woche der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, nichts ändern.

In nächtelangen Verhandlungen mit den Delegierten von 110Regierungen wurde in Yokohama über eine 44-seitige Kurzfassung dieses Berichts, der von den Folgen des Klimawandels für Natur und Gesellschaft sowie möglichen Anpassungsstrategien handelt, für die politischen Entscheidungsträger abgestimmt.

Doch es fiel ein Schatten über diese Verhandlungen, als Richard Tol, ein weltweit führender Klimaökonom, aus Protest gegen „Panikmache“ aus dem IPCC ausstieg. Tol beklagte, dass die Kurzfassung des Berichts wieder durch den typisch apokalyptischen Tonfall geprägt sei. Ähnliche Kritik war schon bei früheren Berichten innerhalb des IPCC aufgekommen.

Das Schlimmste kommt noch

Den Klima-Alarm nehmen die Medien dankbar auf. Selbst die nüchterne „New York Times“ macht – wohl mit Blick auf die träge amerikanische Klimapolitik – ihren aktuellen Bericht über den IPCC mit der Schlagzeile auf: „Worst is yet to come“, sprich: Tornados, Dürren, Hungersnöte – alles erst der Anfang. Das Schlimmste steht uns also noch ins Haus. Doch derartige Dramatisierungen drohen Abwehrreflexe zu provozieren – auch und gerade bei jenen Leuten, die keine Aktivisten sind, im Prinzip aber mit der politischen Mission des IPCC sympathisieren.

Klimaskeptiker machen sich diese Überhitzung des Diskurses ohne Skrupel zunutze. Einzelne Ungenauigkeiten oder fehlerhafte Darstellungen in IPCC-Berichten werden aufgespürt und skandalisiert. Freilich nicht, um die Datenbasis zu verbessern, sondern in der bewussten Absicht, den IPCC – und das heißt letztlich: eine fortschrittliche Klimapolitik insgesamt– zu diskreditieren.

Beispiel Gletscherstreit: Es sei wahrscheinlich, hatte der IPCC vor einigen Jahren behauptet, dass 2035 die Himalaja-Gletscher verschwunden seien. Bald schon musste man einräumen, dass diese Aussage auf fragwürdigen Quellen beruhe und nicht haltbar sei. Aber für die Klimaskeptiker, die mit aller Macht versuchten, die Gletscherschmelze in eine Vertrauensschmelze für den IPCC zu verwandeln, war das ein gefundenes Fressen.

Freilich, das Problem sind nicht die Medien oder gar mangelnde Wissenschaftlichkeit der Klimaexpertise. Das Basisproblem besteht in der Konsenspolitik des IPCC. Die falsche Rechnung der Klimaforscher lautet: Je breiter der Konsens, desto weniger kann sich die Politik unseren Empfehlungen entziehen.

Einen „überwältigenden Konsens“ hat der IPCC-Vorsitzende, Rajendra Pachauri, darum im Herbst 2013, anlässlich der Präsentation des ersten Teilberichts, beschworen. Doch für einen umfassenden Konsens ist die Materie zu komplex, die Datenlage bei manchen Themen zu uneindeutig, und die darauf basierenden Einschätzungen sind zu divers.

Zweifellos: Über 90 Prozent aller Klimaforscher gehen davon aus, dass der Mensch der Hauptverursacher der laufenden globalen Erwärmung ist. Doch der ständige Verweis auf den Konsens wirkt angesichts der Tatsache, dass sich die Klimaforschung vielfach auf Modelle, Szenarien und Extrapolationen verlassen muss, geradezu beschwörend.

Gefahren der Konsenspolitik

Denn natürlich erheben sich sogleich lästige Fragen: Und was ist mit den restlichen vier, fünf oder sechs Prozent? Sind dies vielleicht die weitaus interessanteren Klimatologen? Warum sollte nicht die Minderheit recht haben?

Natürlich ist der Weltklimarat keineswegs blind für die Unsicherheiten vieler Forschungsergebnisse. In den bisherigen Berichten werden diese Unsicherheiten jedoch nicht zum Ansatzpunkt für eine offene Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Gegenpositionen. Sie werden vielmehr aufgefangen und neutralisiert, indem man die hohe Sicherheit der eigenen Wahrscheinlichkeitsaussagen betont.

Greifbar wird dies in Formulierungen wie „Es ist sehr wahrscheinlich, dass...“ oder „Es besteht hohe Übereinstimmung darin, dass...“. Der Konsens namhafter Forscher dient als Näherungswert für die möglicherweise nie ganz eruierbare Wahrheit.

Politisierung wider Willen

Im Zuge dieser Konsensstrategie freilich droht die Marginalisierung abweichender Forschungsergebnisse – und damit steigt die Gefahr der Politisierung von Klimaexpertise: Angesichts der allgemeinen Erwartung, dass die Wissenschaft in derart komplexen Fragen doch wohl nicht mit einer Stimme sprechen könne, wird der leere Platz der Gegenexperten zum Teil recht erfolgreich durch die Klimaskeptiker besetzt.

Das Ergebnis ist eine Politisierung wider Willen: Mithilfe seiner Konsenspolitik versucht der Weltklimarat ja, gerade die Politik herauszuhalten, aber die kommt durch den Verdacht auf Unterschlagung abweichender Positionen wieder zurück – zum Teil eben in der widerlichen Form bestimmter Klimaskeptiker.

Der Weltklimarat wäre gut beraten, in seinen Berichten viel stärker als bisher konkurrierende Gegenexpertise zu berücksichtigen. Man könnte auch wissenschaftliche Minderheiten- oder Randpositionen skizzieren (und natürlich: problematisieren).

Damit verschafft man nicht zwangsläufig den Klimaskeptikern eine Bühne; abweichende Meinungen gibt es auch innerhalb der etablierten Expertenschaft. Die Schwierigkeiten liegen auf der Hand: Es gilt, wissenschaftlich haltbare Gegenpositionen von bloßer Esoterik zu trennen. Aber möglicherweise etabliert sich in diesem Prozess ja auch ein segensreicher Zwang zur Durchsetzung wissenschaftlicher Standards.

Moderne Galileos?

Die Konsenspolitik des IPCC macht es den Klimaskeptikern jedenfalls zu leicht, sich als wissenschaftlich ernst zu nehmende, wenn nicht gar geniale Außenseiter zu inszenieren, die nur aus politischen Gründen marginalisiert werden – quasi als moderne Galileos, die vom Bannfluch des Weltklimarates und seinen Inquisitoren verfolgt werden.

Mehr Mut zum Dissens wäre einer fortschrittlichen Umweltpolitik (im Sinne des IPCC) zweifellos dienlicher als der unbedingte Wille zum Konsens. Auch wenn die globale Erwärmung ein drängendes Problem darstellt: Der Weltklimarat wäre schlecht beraten, der Politik vorgreifen zu wollen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Alexander Bogner
(*1969 in München) studierte Soziologie an den Universitäten Salzburg, Marburg und Frankfurt am Main. Seit 2011 arbeitet er am Institut für Technikfolgenabschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Sein letztes Buch: „Gesellschaftsdiagnosen. Ein Überblick“ (Beltz Juventa, 2012). [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2014)

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