Justizpopulismus neu: Es gilt die Schuldvermutung

Österreichisches Unsittenbild. Über das unheilige Zusammenspiel von Verfolgungsbehörden und Medien und über Richter als Moralprediger.

Vor dem düsteren Grunde der allgemeinen Unsittlichkeit hebt sich die erwiesene Schuld des Angeklagten leuchtend ab“, schrieb Karl Kraus in seinem berühmten Essay „Sittlichkeit und Kriminalität“. Er bezog das sarkastische Diktum auf die voyeuristische Berichterstattung über große Sittlichkeitsprozesse zu seiner Zeit.

Man könnte damit aber auch das heutige Verhältnis von Justiz und Öffentlichkeit beschreiben und das oft komplizenhafte Zusammenspiel von Verfolgungsbehörden und Medien.

Die Berichterstattung über Alfons Mensdorff-Pouilly etwa ist seit jeher eine schmierige Mischung aus Häme und Anbiederung, die sich aus demselben Ressentiment und Komplex nährt, mit dem manche Medien die britischen Royals und den Hochadel überhaupt auf die peinlichste Weise anhimmeln. Mensdorff wird meistens als „Graf Lobby“ bezeichnet.

Dass sein Sitz im burgenländischen Luising nicht die Ausmaße und die Eleganz eines wirklichen Schlosses hat, wird ihm unterschwellig zum Vorwurf gemacht: Man möchte lieber einen richtigen Grafen mit einem richtigen Schloss haben. Der Staatsanwalt stimmt dann ein, indem er zum Angeklagten herablassend meint, er habe ohnehin kein Interesse an dessen Anwesen, denn es „wäre mir zu groß“. Man fragt sich, was diese Art von Unterhaltung mit der Wahrheitsfindung zu tun hat.

Dass Richter Angeklagten oder Verurteilten salbungsvolle Moralpredigten halten und zwar auch dann, wenn sie sie gerade freigesprochen haben, gehört unterdessen schon zum guten Ton im Gerichtssaal. Offensichtlich soll der juristische Freispruch durch eine moralische Verurteilung kompensiert werden. Und für den Richter ist es die Möglichkeit zur Selbstdarstellung im Blitzlichtgewitter.

Gezielte Indiskretionen

Früher machten Staatsanwälte und Richter ihre Arbeit stressfrei und weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit. Heute läuft eine mediale Inszenierung schon lange, bevor die Hauptverhandlung beginnt. Journalisten werden Informationen aus dem eigentlich geheimen Vorverfahren zugespielt, damit sie die richtige Stimmung im Sinne der Staatsanwaltschaft aufbereiten.

Diese Praxis wird damit gerechtfertigt, dass ein Fall oft nur dadurch weitergebracht werden könne. Oder die gezielten Indiskretionen werden der Polizei zugeschrieben, die damit die Staatsanwaltschaft zum Handeln zwingen wolle. Freilich sind auch Rechtsanwälte daran beteiligt, die durch selektive Informationen die Lage für ihren Klienten verbessern wollen. Nach anderen Großinstitutionen, den Parteien und der Politik, der Kirche und der Gewerkschaft, der Medizin und den Schulen ist die Justiz eine der letzten Großinstitutionen, die aus dem geschützten Bereich der Selbstgenügsamkeit herausgerissen und enttabuisiert wurde. Sie kam unter „Handlungs- und Erklärungsdruck“, wie es ein hoher Justizfunktionär formuliert. Sie steht gewissermaßen unter verschärfter Beobachtung.

Völlig neue Anforderungen

Die großen Wirtschaftsverfahren der vergangenen Jahre haben die Justiz vor völlig neue Anforderungen gestellt, sie aber auch in bis dahin nicht gekannte Versuchungen geführt. Sie bekommt von der Politik Fälle zugespielt, mit denen sie prinzipiell überfordert ist.

Wenn die Regierung einen Untersuchungsausschuss über die Hypo Alpe Adria mit dem Hinweis ablehnt, dass ohnehin hundert Gerichtsverfahren dazu anhängig seien, steht die Justiz vor ihrer eigenen Ohnmacht. Zur Aufarbeitung eines solchen Falles fehlen ihr – trotz der Einrichtung der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft – die Kapazitäten und trotz ständiger Kurse in Betriebswirtschaftslehre auch die Kompetenz. Es herrscht eine öffentliche Stimmung, die wirtschaftliche Tätigkeit ganz generell unter Kriminalitätsverdacht gestellt hat und bei jedem Scheitern gleich nach dem Richter ruft.

Die Versuchungen, denen Richter und Staatsanwälte ausgesetzt sind und nur allzu oft erliegen, sind offenkundig. Durch manche Medien wird ein Erwartungsdruck auf „Ergebnisse“ angeheizt. Die Justiz reagiert darauf oft genauso populistisch wie die Politik und liefert dann die „exemplarischen“ Urteile.

Drakonische Urteile

Diese Wechselwirkung hält man auch im Justizministerium selbst für eine „krisenhafte Entwicklung“. Prozesse liefen häufig auf die Frage „Geständnis oder nicht“ hinaus. Wenn dem Angeklagten signalisiert werde, durch ein Geständnis könne er eine geringere Strafe erreichen, sei das geradezu eine Erpressung.

Er habe „Maßstäbe im Kampf gegen die Korruption gesetzt“, bescheinigte die „Kleine Zeitung“ jenem Klagenfurter Richter, der Josef Martinz zu fünfeinhalb Jahren Kerker unbedingt verurteilte. Hier wird der Gedanke der Generalprävention überstrapaziert und die Bewertung von Tat und Täter zugunsten einer vermeintlich berechtigten rechtspolitischen Absicht aufgegeben. „Der Richter muss nicht die Gesellschaft verbessern, sondern einen Täter bestrafen“, formuliert es ein bekannter Anwalt und Strafverteidiger kategorisch.

Die drakonischen Urteile gegen Ernst Strasser und Martinz erklären sich aus einem Mechanismus zwischen medial geschürter Stimmung und einer Justiz, die dieser Erwartung – unbewusst oder bewusst – entspricht. Strafrechtsexperten sind sich einig darüber, dass in beiden Fällen das Strafausmaß viel zu hoch ist, gemessen am Maß des Unrechtsgehalts der Tat.

Im Fall Martinz nahm man selbst in der Justiz an, das Ersturteil sei ein Schreckschuss gewesen und der Oberste Gerichtshof werde das Strafmaß viel deutlicher herabsetzen, als es dann geschah. Zum Vergleich: Bawag-Direktor Johann Zwettler bekam fünf Jahre unbedingte Haft, Martinz letztlich viereinhalb Jahre. Aber Richter entziehen sich der Kritik an ihren Urteilen grundsätzlich damit, dass keine zwei Fälle miteinander vergleichbar seien.

Der „Lieblingsschwiegersohn“

Zu einem Albtraum für alle Beteiligten ist der Fall Karl-Heinz Grasser geworden. Die Justiz sitzt gefangen zwischen ihren eigenen Ansprüchen und der öffentlichen Vorverurteilung Grassers, die sich in jedem noch so kleinen Artikel über ihn äußert. „Lieblingsschwiegersohn der Nation“ ist eine von jenen Bezeichnungen für Grasser, in denen die ganze Ambivalenz zum Ausdruck kommt, die ihm gegenüber herrscht. Das rituelle „es gilt die Unschuldsvermutung“ wird hier zur Farce.

Auch die Justiz weiß, dass das Verfahren schon viel zu lange dauert, kann aber nicht mehr zurück und es einstellen. Andererseits traut man sich nicht, Anklage zu erheben, bevor das letzte Detail gesichert erscheint. Grasser wäre wohl ein Kandidat für jenes – in Österreich nicht bestehende – Rechtsinstitut, wonach die Anklagebehörde ein Verfahren einzustellen hat, wenn sie es bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht zur Anklagereife bringen kann.

„Noch ist die Justiz nicht über den Berg“, meinte der Vorsteher eines Bezirksgerichts vor ziemlich genau einem Jahr im „Rechtspanorama“ der „Presse“. Ob sie schon am Abstieg ist, weiß man allerdings auch nicht so genau.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.